In Deutschland leiden mehr als eine Million Kinder an einer seltenen Erkrankung. Zudem wird geschätzt, dass es mehr als Sechstausend verschiedene solcher Krankheitsbilder gibt.
Weil reguläre Kinderkliniken meist keine Kapazitäten haben, sich um derartig verschiedene medizinische Spezialfelder zu kümmern, übernimmt diese Aufgabe das Zentrum für seltene Erkrankungen bei Kinder und Jugendlichen in Gießen (ZSEGI). Hier betreuen medizinische Experten und speziell ausgebildete Patienten-Scouts Neugeborene, Säuglinge, Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene.
„Ziel unserer Arbeit ist nicht allein die Ursachenklärung einer bisher nicht einzuordnenden Erkrankung, sondern auch die weitere Betreuung und, falls möglich, die zielgerichtete Therapie“, sagt Professor Dr. Bernd A. Neubauer, der Chef des Zentrums und Chefarzt der Abteilung Kinderneurologie, Sozialpädiatrie und Epileptologie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Gießen.
Daneben sei es ihm und seinem Team ein wichtiges Anliegen, die Forschung auf dem Gebiet der seltenen Erkrankungen weiter voranzubringen und neue Therapien zu entwickeln, um dadurch die Lebensqualität und Lebensdauer ihrer kleinen Patienten zu verbessern.
„Die Möglichkeit, eine Vielzahl seltener Erkrankungen gut zu behandeln, gibt es noch nicht lange“, sagt Professor Neubauer. Von daher habe es lange Zeit auch keine spezialisierten Zentren wie das seine gegeben.
Professor Neubauer gibt im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog Einblick in seine Arbeit. Der Experte, der seit 33 Jahren in der Kinderheilkunde tätig ist, spricht über die Bedeutung des medizinischen Fortschritts, der völlig neue Behandlungsmöglichkeiten eröffnet, und über das innovative Versorgungskonzept seiner Klinik.
Herr Professor Neubauer, wie alt sind Ihre Patienten durchschnittlich?
Die meisten, die zu uns kommen, sind unter zehn Jahre alt.
Welche Art von Erkrankungen behandeln Sie besonders häufig?
Besonders Stoffwechselerkrankungen, die zu einem nicht unerheblichen Teil im Erwachsenenalter nicht auftreten. Dies liegt daran, weil Menschen mit diesen Erkrankungen bisher leider oft nicht alt wurden, sondern vorher verstarben. Die gute Nachricht ist allerdings: Immer mehr dieser Krankheiten werden behandelbar.
Wodurch wird das möglich?
Wir reden hier in den meisten Fällen von genetisch bedingten Krankheiten, die oftmals nur durch einen einzelnen Gendefekt ausgelöst werden. Im Bereich der Genetik tut sich auf wissenschaftlicher Ebene seit geraumer Zeit sehr viel. Die mit derartigen Themen befasste Biotechnologie explodiert seit Jahren geradezu.
Jahrzehntelang wurden die Gene herauf und herunter diagnostiziert, aber Therapien daraus ableiten, das ist etwas relativ Neues, was es erst seit etwa zehn, fünfzehn Jahren gibt. Die Kurve der neuen Therapien geht exponentiell nach oben. Hier fängt für die Medizin tatsächlich nicht weniger als eine neue Epoche an. In zwanzig Jahren wird diesbezüglich die Welt nicht mehr sein wie heute. Wie aktuell bei Corona erfordert es hierfür neue Technologien und transnationale Lösungsansätze. Um diese spezifischen Lösungen dann auf breiter Ebene einzusetzen und zu evaluieren, dafür sind Zentren wie das unsere da.
Was grenzt sie von regulären Kinderkliniken ab?
Solche Kinderkliniken haben in der Regel nur eine Handvoll junger Patienten, die an seltenen Krankheiten leiden. Deswegen können diese Institutionen als Betreuende meistens nur bedingt Routinen entwickeln, was die effektive Behandlung der Betroffenen angeht, die sehr individuell sein muss.
Ihr Schwerpunkt ist also eine Versorgungslücke der klassischen Kinderkliniken?
Wir wollen eine Plattform für die von seltenen Erkrankungen betroffenen Patienten bieten und halten es für unseren Auftrag, uns bestmöglich um sie zu kümmern.
Wie würden Sie Ihr Zentrum genau beschreiben?
Wir sind eingebettet in eine Universitätskinderklinik und versorgen Krebserkrankungen, Herzerkrankungen und Stoffwechselerkrankungen, Diabetes, Zöliakie, und so weiter. Hierfür haben wir mehr als zwei Dutzend Spezialambulanzen für Erkrankungen, die zum Teil auch in den Bereich der seltenen Erkrankungen fallen. Außerhalb der Kinderklinik sind wir auf die Expertise von Orthopäden, Radiologen und auch Neurochirurgen angewiesen. Wir arbeiten tagtäglich zusammen, im Rahmen einer guten und sehr weit verzweigten Infrastruktur.
Was bedeutet das für Ihre Patienten?
Wir haben sogenannte Patienten-Scouts, die sich darum kümmern, dass alle Abläufe für unsere Patienten sinnvoll koordiniert werden. Sie sind also dafür da, dass keiner unserer Patienten im komplexen System verlorengeht. Gerade für diejenigen, die von weit her anreisen, ist es wichtig, dass für sie alles gut organisiert wird, wenn sie hier bei uns in der Klinik ankommen. Auf diese Weise passiert es eben nicht, dass sie zum Beispiel heute einen Termin beim Orthopäden haben, auf den beim Hautarzt aber zwei Wochen warten müssen. Daneben kümmern sich die Helfer zum Beispiel auch darum, dass alles, vom Rollstuhl bis zur Unterarmschiene, für unsere Patienten besorgt wird. Diese konkrete Hilfe ist einer unserer zentralen Ansätze.
Was bedeutet es für Sie als Arzt persönlich, auf ihrem Gebiet zu arbeiten?
Ich bin jetzt seit 33 Jahren in der Kinderheilkunde tätig. Zu Beginn musste ich Eltern, bei deren Kind zum Beispiel eine schwere Form der spinalen Muskelatrophie diagnostiziert worden ist, leider mitteilen, dass der kleine Patient in absehbarer Zeit wohl sterben muss. Heute können wir ihnen in vielen Fällen sagen, dass es therapeutische Ansätze gibt, die dafür sorgen können, dass das Kind am Leben bleibt. Aufgrund hochwirksamer Therapien gibt es mittlerweile also eine realistische Chance für die betroffenen Eltern, die schwierige Situation mit ihrem Kind besser in den Griff bekommen. Das ist ein Riesenunterschied zur Situation, wie wir sie früher hatten. Der medizinische Fortschritt hilft, verschiedenste Krankheiten besser zu therapieren, als es jemals zuvor möglich war. Es kommen immer neue Präparate auf den Markt, die seltener verabreicht werden müssen als bisher und dabei noch wirkungsvoller und verträglicher sind. Das alles ist erst der Anfang, es geht gerade erst los.
Ihr Experte für Kinderheilkunde und Seltene Erkrankungen:
Professor Dr. Bernd A. Neubauer
Chef des Zentrums und Chefarzt der Abteilung Kinderneurologie, Sozialpädiatrie und Epileptologie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Gießen