Stottern – Keine Panik!

Stottern – Keine Panik!

Was ist eigentlich Stottern? Und: Ist das schlimm? Solche Fragen bekommt Gisela Erdelen öfter zu hören. Sie ist stellvertretende leitende Lehrlogopädin an der Staatlichen Schule für Logopädie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Marburg. Ihr Fachgebiet: Stottern und andere sogenannte Sprechablaufprobleme.

Bei ihr lernen Schülerinnen und Schüler unter Anleitung die gezielte Anwendung von Therapien, welche die Schule selbst auch betroffenen Kindern und Erwachsenen anbietet. Im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog erklärt die Expertin, wie Stottern entsteht, wer besonders darunter leidet, und in welchem Fall man eine Therapie beginnen sollte.

Frau Erdelen, wie häufig tritt Stottern eigentlich in der Bevölkerung auf?

Von Stottern sind knapp ein Prozent der Erwachsenen und knapp fünf Prozent aller Kinder im Vorschulalter betroffen. Das heißt, dass die meisten Kinder ihr Stottern bis zur Pubertät wieder verlieren. Wenn das Stottern danach fortbesteht, bleibt es in der Regel lebenslang bestehen. Das heißt, dass es auch unter Zuhilfenahme einer Therapie nicht mehr völlig verschwindet.

Was sind denn die Gründe dafür, dass sich Stottern überhaupt erst entwickelt?

Grundsätzlich reden wir hier über ein Koordinationsproblem. Zur Erklärung: Sprechen ist ein sehr komplexer Vorgang. Der Mensch muss hören, formulieren, und dann noch die Motorik auswählen, die letztendlich die Sprechbewegungen zustande bringt. Hierfür muss er sehr viele Muskeln koordinieren. Dabei kann es zu Koordinationsproblemen kommen. Bei Kindern tritt Stottern gehäuft auf, weil sich bei ihnen gleichzeitig die Motorik und das Sprechen entwickeln. Im Vorschulalter nehmen auch Wortschatz und Grammatik zu. Da ist es nicht völlig abwegig, dass die Entwicklung manchmal etwas holprig verläuft. Mit zunehmender Reife des Zentralnervensystems werden diese holprigen Stellen bei den meisten überwunden, aber eben nicht bei allen.

Wann sollte man als Eltern davon ausgehen, dass das Stottern des eigenen Kindes problematische Ausmaße erreichen könnte?

Ob das Stottern einen Menschen lebenslänglich begleitet, wissen wir erst nach der Pubertät. Niemand kann das vorhersagen. Vor der Pubertät verlieren 80 Prozent der Betroffenen das Stottern wieder vollständig. Ganz wichtig ist zu jeder Zeit: Keine Panik! Allen Eltern, die vom Stottern ihres Kindes beunruhigt sind, rate ich: Hören Sie Ihrem Kind weiterhin zu, was es Ihnen erzählen will. Früher hat man immer gesagt: Stottern am besten gar nicht beachten! Das ist aber natürlich schwer zu praktizieren. Einfach deshalb, weil es etwas Auffälliges ist. Also: Wenn man als Elternteil bei seinem Kind ein Stolpern mitten im Satz bemerkt, sollte man sich nicht weiter darum kümmern, sondern sich fragen: Was will mein Kind mir eigentlich sagen? Es geht hier also klar darum, sich mit dem Inhaltlichen auseinanderzusetzen, nicht mit der Art und Weise, wie es gesagt wird.

Können Sie diesen Gedanken noch einmal präzisieren?

Wenn ich in einem Gespräch thematisiere, wie mein Gegenüber mir etwas sagt, stellt das eine Störung der Kommunikation dar, und eine Belastung des Gesprächs. Wenn ich meinem Gesprächspartner also zum Beispiel sage, dass er langsamer sprechen soll, dann hat er das Gefühl, dass er etwas falsch macht. Aber wenn ich versuche gut zuzuhören und zurückzumelden „Ich habe verstanden“, dann tut das der Kommunikation gut.

Wann sollten sich Eltern Sorgen machen hinsichtlich des Stotterns ihres Kindes?

Genau dann, wenn sie auf Seiten des Kindes Beunruhigung bemerken und wenn das Kind offensichtlich ungern spricht, sich beim Stottern auf den Mund haut, oder zum Beispiel äußert „Ich kann ja gar nicht sprechen!“. Kurz gesagt:

Sobald man als Vater oder Mutter emotionale Reaktionen des Kindes auf das Stottern bemerkt, sollte man etwas dagegen tun.

Zudem sollte man sich auch dann Hilfe holen, wenn man als Eltern beunruhigt ist. Einfach deshalb, weil es in der Familie immer Wechselwirkungen gibt. Ist irgendjemand beunruhigt, wirkt sich das auch auf die anderen aus. Halten die Eltern also zum Beispiel jedes Mal die Luft an, wenn das Kind stottert, bemerkt das Kind das. Dadurch wird eine negative Abwärtsspirale in Gang gesetzt, die das Kind nachhaltig prägt. Das sollte vermieden werden. Ziel muss sein, dass das Kind weiterhin Freude am Sprechen hat. Wenn man beobachten kann, dass sich das Stottern weiterentwickelt, das Kind also zum Beispiel damit beginnt, die Augen zuzukneifen oder die Fäuste zu ballen, sollten die Eltern Experten aufsuchen. Gleiches gilt in Fällen, in denen Kinder damit beginnen, Sprechen zu vermeiden, wo sie zuvor noch gesprochen haben.

Was tun Sie, wenn Sie als Therapeutin stotternden Kindern gegenübersitzen?

Unser Ansatz klingt vielleicht erst einmal ungewöhnlich, aber wir versuchen tatsächlich Kindern beizubringen, absichtlich zu stottern. Sie sollen dadurch lernen, beim Stottern „weich zu bleiben“, also keine Anstrengungen aufzubauen. Es geht also um „gutes Stottern“, das wir ihnen beibringen möchten. Außerdem legen wir nahe, dass Stottern ihnen keine Angst machen muss.

Ziel ist, die sogenannten sekundären Symptome wie Anstrengung, Vermeidung und emotionale Reaktionen abzubauen. Diese Therapieform heißt übrigens „KIDS“, das ist die Abkürzung für „Kinder dürfen stottern“.

Die Kinder lernen bei uns, das Stottern nichts Schlimmes ist und man sich dabei nicht anstrengen muss. Unsere Intention ist, das Kind auf eine Stufe zu bugsieren, die eine Remission, also eine Rückentwicklung des Stotterns, wahrscheinlich macht. Auf das Stottert selbst können wir wenig oder gar nicht einwirken. Schließlich können wir dem Patienten nicht ins Gehirn greifen und das Koordinationsproblem herausnehmen. Was wir aber können, ist: dafür sorgen, dass sich das Stottern nicht weiterentwickelt und dass es sich nicht zu einem Problem auswächst. Stottern muss nicht unbedingt ein Problem sein. Viele Kinder stottern. Wir wollen verhindern, dass das Kind gehänselt wird und eine schwere Zeit hat.

Sollte sich herausstellen, dass ein Patient lebenslang vom Stottern betroffen sein sollte: Ist auch dann eine Therapie sinnvoll?

Ja. In jedem Alter kann am Stottern etwas verändert werden. Unsere Stotter-Therapie bieten wir ausdrücklich auch für Erwachsene an. Hier üben wir, mit den Symptomen umzugehen, es also weich, langsam und bewusst angehen zu lassen. Ansonsten läuft Sprechen nämlich absolut unbewusst ab. Niemand macht sich dabei Gedanken über Lippen- und Zungenbewegungen, oder über die Grundspannung, die beim Sprechen auftritt. Ziel ist also, dass der Patient im Moment des Stotterns quasi auf „Handsteuerung“ umschaltet, an einer Stelle, an der Sprechen ansonsten vollständig automatisch abläuft. Und das lässt sich in jedem Alter lernen. Also auch dann, wenn das Stottern lebenslang bestehen bleiben sollte, können wir gemeinsam mit dem Patienten dafür sorgen, dass es nicht besonders auffällig ist und keine negativen Gefühle auslöst.

 

 

 

 

 

Ihre Expertin für Logopädie:
Gisela Erdelen
Stellvertretende leitende Lehrlogopädin an der Staatlichen Schule für Logopädie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Marburg