Organspende: „Jeden Tag sterben in Deutschland drei Personen auf der Warteliste“

Organspende: „Jeden Tag sterben in Deutschland drei Personen auf der Warteliste“

Organspende bleibt in Deutschland ein emotional diskutiertes Thema. Dass es oftmals ohne sachliche Argumente debattiert wird, kritisiert Sabine Moos.

Sie ist Fachärztin für Innere Medizin und Transplantationsbeauftragte am Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) am Standort Gießen, wo man sich auf die Transplantation von Kinderherzen, Lungen und Nieren spezialisiert hat.

Ihre Aufgabe: Das Thema Organspende klinikintern, aber auch im Gespräch mit Patienten und deren Angehörigen zu thematisieren und Ängste abzubauen. Im Rahmen ihrer Tätigkeit organisiert sie auch Fortbildungen und Aktionen, um das Thema positiv zu besetzen und gezielt aufzuklären. Beispiele sind eine Ausstellung mit Bildern von transplantierten Patienten und eine „Radtour für Organspende“.

Im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog spricht Frau Moos über ihre ganz persönlichen Erfahrungen im Klinikalltag – und warum sich ihrer Meinung nach jeder zumindest einmal im Leben mit der Frage auseinandersetzen sollte, ob er seine Organe spenden möchte – oder eben nicht.

Frau Moos, wie wahrscheinlich ist es denn, dass man selbst einmal auf eine Organspende angewiesen ist?

Die Wahrscheinlichkeit, selbst einmal ein Organ zu brauchen ist statistisch gesehen sieben Mal größer als die Wahrscheinlichkeit, dass man selber Organspender wird. Denn es gibt einfach viele Erkrankungen, die ganz plötzlich und unerwartet auftreten können. Akutes Nierenversagen zum Beispiel. Auch kann es passieren, dass Menschen, die zuvor völlig gesund waren, nach einer Herzmuskelentzündung durch einen Virus- oder einen grippalen Infekt innerhalb weniger Wochen eine so schwere Herzinsuffizienz entwickeln, dass sie auf eine Herz-Transplantation angewiesen sind. Schnell kann es auch zu einem Leberversagen kommen, zum Beispiel ganz akut durch eine Pilzvergiftung oder Nebenwirkungen von Medikamenten. Es gibt also viele Ursachen dafür, dass man wirklich „von jetzt auf gleich“ auf eine Organtransplantation angewiesen ist.

Wie würden Sie denn aktuell die Situation rund um die Thematik Organspende in Deutschland einschätzen?

Wir haben nach wie vor eine große Diskrepanz zwischen Bedarf an Organen und tatsächlich gespendeten Organen. Die Realität ist, dass jeden Tag drei Patienten auf der Warteliste sterben, weil man ihnen kein Organ zur Verfügung stellen kann. Natürlich ist es für behandelnde Ärzte und Klinikpersonal schwer zu ertragen, Patienten auf der Intensivstation liegen zu haben, die zum Beispiel an Lungenversagen leiden. Denn sie alle wissen natürlich: Durch eine Lungentransplantation könnte man ihnen helfen, nur leider stehen einfach keine Organe zur Verfügung. Bei der Niere gibt es zum Glück die Möglichkeit der Dialyse, um lange Wartezeiten zu überbrücken. Bei Leber oder Lunge ist das aber nicht möglich.

In anderen Ländern, wie zum Beispiel Spanien, warten Patienten vielleicht einmal ein Jahr, oder zwei. Von daher ist Deutschland im internationalen Vergleich im Bereich Organspende ein echtes Entwicklungsland.

Wie lange muss man denn auf eine Nierentransplantation ungefähr warten?

Bei uns mittlerweile im Durchschnitt zehn Jahre. Zum Vergleich: In anderen Ländern, wie zum Beispiel Spanien, warten Patienten vielleicht einmal ein Jahr, oder zwei. Von daher ist Deutschland im internationalen Vergleich im Bereich Organspende ein echtes Entwicklungsland. Das gilt ausdrücklich nicht für Transplantationen, aber eben für Organspenden.

Was glauben Sie denn, warum es hierzulande zu wenig Organspender gibt?

Ich denke, dass eine große Rolle spielt, dass Organspende grundsätzlich mit der Thematik „Sterben“ einhergeht. Organspende ist nur möglich, wenn jemand am Hirntod verstirbt. Und jeder weiß, dass das Thema Tod natürlich auch oder gerade in unserer modernen Gesellschaft ein Tabu-Thema geblieben ist, mit dem sich viele Menschen nicht gern beschäftigen. Außerdem glaube ich, dass in der Bevölkerung noch viel Unwissenheit hinsichtlich der Thematik Organspende vorherrscht. Viele wissen zum Beispiel nicht, dass man auch als älterer Mensch noch als Organspender infrage kommt. Und ganz grundsätzlich ist das Thema einfach nicht so positiv besetzt, wie das in anderen Ländern der Fall ist. In Spanien zum Beispiel ist Organspende die Regel, und nicht die Ausnahme. Dort stimmen rund 95 Prozent der als Spender geeigneten Personen zu. Außerdem gibt es dort eine andere gesetzliche Regelung. Bei uns hingegen bestehen viele Vorbehalte, und eben noch viel Aufklärungsbedarf.

An welche Lösungsmöglichkeiten glauben Sie, die diese Situation in Deutschland etwas entspannen könnten?

Ich bin für gezielte Aufklärungsarbeit über Themen wie Hirntod und Organspende, die schon in den Schulen anfängt. Außerdem würde ich es als sinnvoll erachten, an „Schnittstellen des Lebens“ Menschen gezielt danach zu fragen, ob sie Organe spenden wollen. Das könnte zum Beispiel bei der Beantragung eines neuen Personalausweises oder Führerscheins passieren. Für sehr sinnvoll würde ich auch die sogenannte Widerspruchslösung erachten, bei der Bürger eine Organspende aktiv ablehnen müssen anstatt ihr aktiv zuzustimmen.

Gibt es denn verlässliche Statistiken darüber, wie viele Menschen in Deutschland zurzeit auf eine Organspende warten?

Um die 8.500 Personen. Davon sind die meisten Nieren-Patienten, weil die anderen Patienten schlicht und einfach sterben, wenn sie nicht innerhalb einer bestimmten Zeit ein Organ bekommen. Das muss man ganz klar sagen.

Was kommt auf den Plätzen danach?

Laut Zahlen von Ende 2022 stehen an zweiter Stelle auf der Warteliste Patienten, die eine Lebertransplantation benötigen (ca. 841 Patienten), gefolgt von Herz-Patienten (699 Personen), Pankreas-Patienten (317 Personen) und Lungenpatienten mit (286 Personen).

Gibt es eine Geschichte, die Ihrer Meinung nach zeigt, wie wichtig es ist, über Organspende zu reden?

Ja, sie ist allerdings nicht an unserer Klinik passiert und handelt von einem vierjährigen Mädchen, das eine Komplikation nach einer Operation erlitten hat und sterben musste. Ihre Eltern haben im Gespräch mit den Ärzten das Thema Organspende wohl von sich aus angesprochen. Und sie ist dann auch durchgeführt worden. Der Vater soll als Begründung gesagt haben, die erste Katastrophe sei der Tod seiner Tochter gewesen. Die zweite Katastrophe aber wäre für ihn gewesen, wenn er und seine Ehefrau nach ein paar Wochen erfahren hätten, dass eine Organspende bei seiner Tochter möglich gewesen wäre und ein anderes Kind damit gerettet hätte werden können. Aber sie als Eltern keiner danach gefragt hätte.

Ich denke einfach, wir sind verantwortlich für das, was wir tun, aber eben auch für das, was wir nicht tun. Und ich glaube, die Frage nach der Organspende muss gestellt werden. Und, um auf das Beispiel mit dem Mädchen zurückzukommen: Wenn ich sie in einer solchen Situation nicht stelle, dann nehme ich einer solchen Familie letztlich auch die Chance, eine Entscheidung zu treffen.

Wenn man solche Fragen stellt, wird aber auch nicht jeder Gefragte begeistert sein…

Sicher. Man wird, wenn man nach solch existenziellen Dingen fragt, auch hin und wieder heftige emotionale Reaktionen bekommen. Da ist es auch wichtig, Fingerspitzengefühl zu zeigen, sich Zeit für die Familie zu nehmen, ihnen den Hirntod und die Untersuchungsabläufe zu erklären, und über den mutmaßlichen Willen der/des Verstorbenen bezüglich Organspende zu sprechen.

Was würden Sie sich hinsichtlich des öffentlichen Diskurses über das Thema wünschen?

Wichtig wäre meiner Meinung nach, dass die positiven Aspekte der Organspende häufiger betont werden. Und dass allen klargemacht wird, dass es sich hier um ein Thema handelt, das wirklich jeden Einzelnen von uns betreffen kann. Wichtig ist also, einen Perspektivwechsel bei sich selbst vorzunehmen. Gleichzeitig möchte ich betonen, dass es natürlich wichtig ist, niemanden zu drängen. Organspende ist und bleibt eine freiwillige Angelegenheit.

Weiß man denn, wie viele Menschen einer Organspende grundsätzlich positiv gegenüberstehen?

Ja, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) führt in Deutschland diesbezüglich regelmäßig Befragungen auf der Straße durch, und fragt dort die Menschen, was sie von Organspende halten. Ergebnis: Über 80 Prozent der Menschen sind dafür und sagen, dass Organspende eine gute Sache sei. Gibt es bei einer sterbenden Person allerdings keinen Organspende-Ausweis und keine Patientenverfügung, befinden sich die Angehörigen in einem Dilemma. Und egal, wie sie sich entscheiden, dafür oder dagegen: Es bleibt immer die Frage: „Haben wir es richtig gemacht?“ Daher unser Appell: Entscheide dich, damit andere nicht für dich entscheiden müssen!


*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen in der Regel die männliche Form verwendet. Mit dieser Formulierung sind alle Personen des entsprechenden Personenkreises gemeint, gleich welchen (sozialen) Geschlechts und welcher Geschlechtsidentität.


Ihre Expertin für Organspende:
Sabine Moos
Fachärztin für Innere Medizin und Transplantationsbeauftragte am Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) am Standort Gießen