„Das ist schon spannend, zu arbeiten, wenn man mit 320 km/h durch Mittelhessen donnert“, sagt Professor Simon Little. Er ist Oberarzt im Bereich Notfallmedizin an der Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie des Universitätsklinikum Gießen & Marburg am Standort Gießen.
Gemeinsam mit seinen beiden Kollegen, Professor Dr. Michael Sander, dem Klinikdirektor, sowie dem Funktionsoberarzt Dr. Florian Martens, spricht er im RHÖN-Gesundheitsblog über Luftrettung, die die Gießener Klinik in Zusammenarbeit mit der Johanniter Luftrettung betreibt.
Was viele Menschen nur aus dem Fernsehen kennen, ist für die Mediziner Alltag. Seit mittlerweile über fünf Jahren ist ein sogenannter Intensivtransporthubschrauber am Luftrettungszentrum in unmittelbarer Nähe zum Universitätsklinikum Gießen stationiert, der im ganzen Bundesgebiet fliegt, auf den Namen „Christoph Gießen“ hört, bis zu einer Tonne zuladen kann, und 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag einsatzbereit ist.
Transportiert werden sowohl Unfallpatienten als auch solche, die zum Beispiel an Herz oder Lunge erkrankt sind. „Oftmals gibt es Patienten mit schweren Verbrennungen oder solche mit Amputationsverletzungen”, erzählt Professor Little: „Grundsätzlich geht es darum, Betroffene mit dem Hubschrauber möglichst schnell dorthin zu bringen, wo sie bestmöglich weiterversorgt werden.“
Herr Professor Little, wer gehört zur Besatzung des Rettungshubschraubers?
Professor Little: Wir haben tagsüber einen Piloten, einen Notfallsanitäter mit einer Zusatzausbildung in Luftfahrt, sowie einen Notarzt. In der Nacht fliegen wir mit einem zweiten Piloten, der noch dazukommt.
Was passiert während eines solchen Flugs?
Professor Sander: Auch während des Flugs arbeiten wir aktiv am Patienten. Das ist auch ein Unterschied zu anderen luftgebundenen Rettungsdiensten. Früher war die Strategie, dass man den Patienten auf dem Boden stabilisiert und anschließend losfliegt. Das ist heute anders. Einfach auch deswegen, weil manche Patienten permanente ärztliche Aufmerksamkeit brauchen. Eben auch während des Flugs.
Welche technische Ausstattung braucht man da?
Dr. Martens: Was wir häufig tun, ist, Patienten zu transportieren, die unter einem akuten Lungen- oder Herzversagen leiden. Oftmals nehmen wir dann ganze Teams mitsamt einer kompletten ECMO-Anlage mit. Dieses Gerät pumpt Blut kontinuierlich durch einen sogenannten Membran-Oxygenator, der den Gasaustausch in der Lunge ersetzt. Wir fliegen dann mit dieser kompletter Ausstattung zu oftmals weit entfernten Zentren, die sich dann weiter um die Patienten kümmern.
Ihr Hubschrauber ist deswegen so groß, damit alles reinpasst?
Professor Little: Mit einer möglichen Zuladung von über einer Tonne sind wir bundesweite Spitze und nicht so limitiert wie herkömmliche Hubschrauber. Von vielen Kliniken wird es geschätzt, dass wir deswegen ganze Teams aufnehmen können, also locker zwei, drei Leute extra, plus Patient natürlich, und plus ECMO-Anlage. Bei anderen Hubschraubern müsste man da überlegen, was man zuhause lässt.
Welche Besonderheiten hat „Christoph Gießen“ noch?
Professor Little: Wir haben einen der wenigen Hubschrauber, der nachts fliegen kann, und zwar mit Nachtsichtgerät. Pilot und Kopilot haben also Nachtsichtbrillen auf dem Helm. Das hat auch zur Folge, dass wir bei schlechtem Wetter gut fliegen können.
Welche Art von Einsätze fliegen Sie grundsätzlich?
Dr. Martens: Zunächst einmal sogenannte Primäreinsätze. Das heißt, wir fliegen zu Einsatzstellen wie Unfällen und holen sowie versorgen dort die Patienten. Bei den Sekundäreinsätzen wiederum geht es vor allem um den Interhospitalverkehr, wenn also Patienten von einer Klinik in eine andere verlegt werden müssen. In besonderen Fällen können wir dann durchs ganze Bundesgebiet fliegen. Und dann gibt es noch den Tertiärrettungsbereich. Hier geht es zum Beispiel um Organtransporte, Blutkonserventransporte oder Blutprobentransporte.
Von welchen Strecken sprechen wir da?
Professor Little: Im Primärbereich fliegen wir nachts von unserem Standort in Mittelhessen bis nach Baden-Württemberg, tagsüber in der Regel in einem Einsatzradius von maximal 200 Kilometern. Im Sekundärbereich sind Non-Stop-Flüge nach Rostock, ins Allgäu oder nach Dresden kein Problem. Da kommen also schnell mehrere Hundert Kilometer pro Flug zusammen.
Und wie häufig sind Sie in der Luft?
Professor Little: Wir haben ungefähr 1100 Einsätze im Jahr, Tendenz steigend. Davon sind ungefähr die Hälfte Primär-, die andere Hälfte Sekundäreinsätze. Organ- und Gerätetransporte sind eher eine Seltenheit. Dafür gibt es andere Hubschrauber, die solche Aufträge in der Regel übernehmen.
Weshalb spielen Rettungshubschrauber heute überhaupt eine so große Rolle?
Dr. Martens: Kliniken spezialisieren sich zunehmend. Transportwege werden länger, und oftmals liegen die für bestimmte Patienten relevanten Spezialkliniken an geografisch weit entfernten Orten.
Wann kommt Ihre Luftrettung eigentlich grundsätzlich zum Einsatz?
Dr. Martens: Meistens dann, wenn kein bodengebundener Notarzt in der notwendigen Zeit verfügbar ist. Wenn am Unfallort die Fachkräfte entscheiden, dass es einen Rettungshubschrauber braucht, wird er von den entsprechenden Leitstellen angefordert.
Professor Sander: Wir kooperieren auch eng mit überregionalen Traumazentren, die Schwerstverletzten rund um die Uhr die bestmögliche medizinische Versorgung bieten. Hier geht es oftmals darum, Patienten zu versorgen, die im ländlichen Raum und fernab einer solchen geeigneten Einrichtung wohnen.
Welche Rolle wird der Hubschrauber zukünftig im Rettungsdienst spielen?
Professor Sander: Grundsätzlich ist es so, dass Transportwege länger werden und die Patientenversorgung insgesamt komplexer wird. Der medizinische Fortschritt verläuft rasant, gleichzeitig gibt es immer mehr Spezialkliniken. Schon deswegen wird es in Zukunft mehr und mehr luftgebundene Transporte geben, um die Transportwege und -zeiten für die Patienten möglichst kurz zu halten.
Professor Little: Gleichzeitig geht auch in der Luftfahrt die Entwicklung weiter. Ein erster Schritt ist der erwähnte Einsatz von Nachtsichtgeräten, die uns als Rettungsdienst wetterunabhängiger machen. Irgendwann wird es sicher auch Enteisungstechniken an den Rotorblättern geben, die dafür sorgen, dass man den Hubschrauber im Winter noch besser einsetzen kann.
Zum Schluss: Wie kann man sich Ihr Rettungszentrum vorstellen, von dem aus Sie mit dem Hubschrauber losfliegen?
Dr. Martens: Es liegt in direkter Nachbarschaft zu der Universitätsklinik Gießen und ist ähnlich einer normalen Rettungswache aufgebaut. Da gibt es Sozial- und Schlafräume sowie Lager für Material und Technik. Oben auf dem Gebäude ist das Herzstück: die Landeplattform für den Helicopter. Die räumliche Nähe zum Klinikum ist natürlich auch dann praktisch, wenn es darum geht, in kürzester Zeit Lösungen zu finden, zum Beispiel für Spezialtransporte. In manchen Fällen fliegen wir dann auch mal spontan mit zwei Ärzten vom Standort los.