Mehr als 60 Prozent der in Deutschland gestellten klinischen Diagnosen stützt sich auf die Labormedizin, wie sie am Institut für Laboratoriumsmedizin und Pathobiochemie, Molekulare Diagnostik des Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Marburg praktiziert wird.
„Auf unserem Gebiet tut sich sehr, sehr viel”, sagt der Direktor des Instituts Professor Dr. Harald Renz. Sein Institut ist eines der größten diagnostischen Laborinstitute in Deutschland. Analysiert werden unter anderem Blut und Urin, und das 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag.
Im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog spricht der Experte über die besondere Expertise seines Instituts, die in Zeiten der Corona-Pandemie besonders gefragt ist, über die Vorzüge der sogenannten personalisierten Medizin, und über eines seiner Projekte, das zuletzt international Beachtung fand.
Herr Professor Renz, Sie und Ihr Team waren in den vergangenen Wochen in den internationalen Medien vertreten. Es ging darum, dass Sie am Klinikstandort Marburg zwei einfach gebaute Beatmungsgeräte entwickelt haben. Worum ging es genau?
Das ist eine ganz tolle Initiative, die von unseren Physikern ausgegangen ist. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob es nicht möglich ist, mit ganz rudimentären Materialien, die man quasi im Baumarkt kaufen kann, ein ganz einfaches Beatmungsgerät herzustellen.
Wobei der Markt für solche Geräte nicht unbedingt Deutschland ist, oder?
Helfen könnte man damit all den Menschen, die beatmet werden müssen, im Moment aber keinen Zugang zu einer Top-Intensivmedizin haben, wie wir sie hierzulande haben. Und all jenen Regionen der Welt, in denen eine dramatische Knappheit an den Geräten besteht. Da blicke ich unter anderem auf die USA, aber demnächst auch auf Afrika.
Sie sind Direktor des Instituts für Laboratoriumsmedizin und Pathobiochemie, Molekulare Diagnostik, das hört sich für den Laien in erster Linie wissenschaftlich an. Was tun Sie genau und welche Rolle spielt Ihr Institut in der aktuellen Covid-19-Krise?
Wir untersuchen sämtliche Flüssigkeiten des menschlichen Organismus, hauptsächlich Blut, aber zum Beispiel auch Urin. Feststellen können wir dann mögliche Fehlregulationen im menschlichen Körper, die zur Entstehung, Entwicklung oder Verschlechterung einer Krankheit beitragen.
In gewisser Weise fristet die Labormedizin in der öffentlichen Wahrnehmung trotz ihrer unbestrittenen großen Bedeutung für die Medizin ein Nischendasein. Das dürfte vor allem daran liegen, dass sie im Prinzip im Hintergrund abläuft.
Und was ist das konkrete Produkt Ihres Instituts?
Diagnostische Tests, die man auch „Labortests“ nennt. Sie leisten einen essentiellen Beitrag, damit es überhaupt erst zu einer sicheren Diagnose kommen kann. Hier arbeiten wir im Schulterschluss mit den Kollegen der Pathologie zusammen, die sich allerdings nicht mit Flüssigkeiten, sondern mit Gewebeproben beschäftigen. Zum Dritten gibt es noch die Bildgebung, die zum Beispiel mit Röntgen, Ultraschall, Computertomografie oder Nuklearmedizin arbeitet. Das mal zur Einordnung.
Ihr Institut ist in den Kliniken also ziemlich gefragt?
Hier wird 24 Stunden am Tag gearbeitet, sieben Tage pro Woche, 365 Tage im Jahr. Es können also ständig Blutproben von Patienten abgegeben werden, die wir dann unmittelbar und sofort untersuchen. Das ist unter anderem für die Notaufnahme ganz entscheidend, wo die Kollegen innerhalb kürzester Zeit wissen müssen, ob ihr Patient einen Herzinfarkt hat, oder einen Schlaganfall, ob die Niere noch funktioniert, oder ob ein anderes Organ Probleme macht. Manchmal sind es auch Entzündungen, die wir so feststellen können.
Und in Zeiten von Corona?
Da können wir feststellen, ob ein Patient noch fähig ist, Sauerstoff aufzunehmen. Sollte das nicht der Fall sein, muss er natürlich sofort beatmet werden. Zudem ist es aktuell sehr wichtig, zunächst einmal ganz klar zu erkennen, ob es sich um einen Patienten mit Covid-19 handelt, oder nicht. Denn Erkrankungen, die mit Husten, Halsschmerzen, Heiserkeit, Gliederschmerzen und Fieber einhergehen, gibt es natürlich viele.
Was ist, wenn Sie Covid-19 diagnostiziert haben?
Dann gilt es festzustellen, wie stark der Patient betroffen ist. Hier interessiert uns Mediziner vor allem, ob es zu einer sogenannten Überreaktion des Abwehrsystems kommt.
Warum?
Weil diese oftmals entscheidend dafür ist, ob ein Patient im weiteren Verlauf auf einer Intensivstation untergebracht werden muss, wo dann eventuell sogar eine Beatmung notwendig wird. Außerdem wissen wir, dass viele Corona-Patienten auch Störungen an anderen Organen zeigen. Hier geht es vor allem ums Herz- und Gefäß-System. Manchmal sieht das für Mediziner dann aus wie ein kleiner Herzinfarkt. Auch können Durchblutungsstörungen auftreten, die im schlimmsten Fall einen Schlaganfall auslösen. Nicht zuletzt können auch die Funktion von Leber und Niere beeinträchtigt sein.
Es geht also darum, den Patienten möglichst ganzheitlich zu betrachten?
Besonders dann, wenn wir einen Corona-Patienten im Haus haben, ist es sehr wichtig, sich seinen Zustand gut anzuschauen. Im weiteren Verlauf prüfen wir natürlich, ob eine Verbesserung oder eine Verschlechterung eintritt. Ziel ist, dass die Intensivmediziner auf Grundlage unserer labormedizinischen Einschätzung adäquat reagieren können.
Wie viele Laborwerte reichen Sie pro Jahr weiter?
Über 10 Millionen. Unser Portfolio umfasst über 800 verschiedene Labortests: Blutbilder, Urindiagnostik, Hormon- und Stoffwechselmessungen, Messungen von Medikamentenspiegeln und von Vergiftungen, Allergie-Diagnostik, aber auch Diagnostik von Autoimmunerkrankungen wie zum Beispiel Rheuma.
Wie kann man sich den Alltag Ihres Teams vorstellen?
Pro Tag kommen hier etwa 4000 bis 5000 Röhrchen mit Proben von Patienten an. Dann sind wir dran, mit der Untersuchung dieser Proben. Und anschließend schicken wir die Ergebnisse per Befund zurück an die Spezialisten aus den Kliniken. Oftmals bekommen wir von ihnen auch Rückfragen. Das ist sozusagen praktisch gelebte Labormedizin.
Wagen Sie mal einen Blick in die Zukunft Ihrer Disziplin?
Ein großes Thema, das auch jetzt schon sehr präsent ist, ist das der Labormedizin-Informatik. Hier geht es darum, Forschungs- und Patientendaten zu verknüpfen, sie sozusagen miteinander „reden“ zu lassen, damit die Versorgung unserer Patienten noch besser wird.
Da ist „Präzisionsmedizin” ein Schlagwort…
Oder auch „personalisierte Medizin“. Das betrifft die Labormedizin insbesondere, weil es in Zukunft noch mehr darauf ankommen wird, festzustellen, wie es jedem einzelnen unserer Patienten mit seiner Grunderkrankung geht.
Nehmen wir einen Patienten mit einer chronischen Lungenerkrankung wie Asthma. Heute reicht es da schlicht nicht mehr aus zu sagen, dass der Patient an dieser Krankheit leidet. Stattdessen müssen wir genau analysieren, unter welcher Art von Asthma er leidet. Da gibt es zum Beispiel allergisches oder auch nicht-allergisches Asthma. Darüber hinaus gibt es noch viele Unterscheidungsmerkmale mehr. Die Aufgabe der Labormedizin ist es, bei derartigen chronischen Erkrankungen diese feinen Facetten zuzuordnen.
Weswegen ist das wichtig?
Weil künftig jede dieser feinen Facetten anders behandelt wird. In der modernen Medizin geht es also nicht mehr nach dem Motto „eine Behandlung für alle Patienten“, sondern darum, jeden Patienten mit seinen Besonderheiten zu analysieren und für ihn ein maßgeschneidertes Therapiekonzept zu bauen. Das ist personalisierte Medizin. Und hier ist die Labormedizin ein sehr wichtiger Baustein.
Ihr Experte für Labormedizin:
Professor Dr. Harald Renz
Direktor des Institut für Laboratoriumsmedizin und Pathobiochemie, Molekulare Diagnostik des Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Marburg