Digitale Medizin: Wie können moderne Technologien helfen?

Digitale Medizin: Wie können moderne Technologien helfen?

Der technologische Fortschritt verändert auch die Medizin in atemberaubendem Tempo. Gleichzeitig hakt es an einigen Stellen, man denke nur an den holprigen Start des E-Rezepts.

Im RHÖN-Gesundheitsblog spricht der Digitalisierungsexperte Universitätsprofessor Dr. Sebastian Kuhn Klartext über den aktuellen Stand der Dinge, über Herausforderungen – und über das, was aktuell schon möglich ist bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten.

Er leitet das Institut für Digitale Medizin am Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Marburg und ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie.

Herr Professor, eine Ihrer zentralen Thesen ist: Patientinnen und Patienten wollen nicht in erster Linie digitale Medizin, sondern schlicht eine hochwertige Behandlung. Mit anderen Worten: Nicht die eingesetzten Mittel zählen, sondern der Erfolg…

Genau so ist es. Wenn man sich die Entwicklungen in der Medizingeschichte ansieht, merkt man: Zu verschiedenen Zeitpunkten hatten wir Ärztinnen und Ärzte logischerweise unterschiedliche Werkzeuge. Vor 250 Jahren war das Stethoskop ein großer Schritt nach vorne, vor 100 Jahren das Röntgen, vor 30, 40 Jahren dann die Genetik. Und jetzt sind es einfach eine ganze Reihe digitaler Werkzeuge. Unser Ziel bleibt aber das gleiche: Krankheiten diagnostizieren und heilen, Leid lindern und sterbende Menschen begleiten.

Mittlerweile kennt man in Deutschland die digitale Gesundheitskarte und das E-Rezept, aber von einer Revolution merkt der Normalbürger bisher wenig. Welche Technologien sind denn erwähnenswert?

Es gibt eine ganze Reihe von verschiedenen digitalen Technologien, die wir im Behandlungsablauf einsetzen können. Entweder um Krankheiten früher zu erkennen, oder um Patientinnen und Patienten schneller an den Ort zu bringen, wo ihnen optimal geholfen werden kann. Erwähnenswert sind auch solche Tools, die dabei helfen, chronisch kranke Menschen längerfristig zu begleiten. Die Einsatzbereiche sind zwar in vielen Bereichen noch sehr punktuell, aber durchaus hilfreich. In der Regel läuft es so, dass Patientinnen und Patienten über eine Smartphone-App Daten sammeln, und diese dann mit Ihrer Ärztin oder ihrem Arzt teilen. Dokumentiert werden können auf diese Weise Beschwerden, Erkrankungsverläufe oder Untersuchungsergebnisse.

Was ist mit Menschen, die sich im Umgang mit Smartphones nicht sicher fühlen?

Ein wichtiger Auftrag an uns ist, sicherzustellen, dass die Einführung von neuen Technologien nicht zu mehr Ungleichheit führt, oder dazu, dass bestimmte Patientengruppen abgehängt werden. Was wir nicht wollen, ist eine Situation, wie sie im ländlichen Raum oft vorkommt, wenn etwa die letzte Bank schließt und einige Menschen Schwierigkeiten haben ihre Bankgeschäfte zu erledigen. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch zu Kenntnis nehmen, dass ein Großteil der Bevölkerung das Smartphone mittlerweile in den Alltag integriert hat, also souverän damit umgehen kann.

Die Anwendungen, die aus dem Gesundheitssektor kommen, müssen so gestaltet sein, dass sie so einfach ausgeführt werden können wie eine Google-Suche oder das Verfassen einer Whatsapp-Nachricht. Ein zweiter zentraler Punkt ist die technische Einweisung von Patientinnen und Patienten, damit sie souverän agieren können. Der dritte Punkt ist: Wir müssen uns bewusst machen, dass es trotz der Technikaffinität eines Großteils der Bevölkerung auch weiterhin Menschen geben wird, die nicht in der Lage sind, die Technologien zu nutzen. Und das aus ganz unterschiedlichen Gründen. Zum Beispiel weil sie schwer krank oder hochbetagt sind. Hier kommen Familie und Kinder als Helfer in Frage, oder auch Sozialstationen. In diesem Bereich werden sicherlich zunehmend neue Berufe entstehen, und neue Aufgaben.

Medial viel diskutiert wird auch über das Stadt-Land-Gefälle in der Versorgung. Wie können moderne Technologien hier helfen?

Grundsätzlich muss eine Art von Vor-Ort-Versorgung sichergestellt werden. Schon deshalb, weil es bestimmte Erkrankungen oder Notfälle gibt, die ein nahe gelegenes Krankenhaus erfordern. Wenn es um fachärztliche Versorgung geht, können Digitalisierung und Telemedizin sinnvolle Bausteine sein, das Problem der Unterversorgung von gewissen Gegenden zu lösen. Konkret sprechen wir hier zum Beispiel von sogenannten Tele-Sprechstunden, im Rahmen derer man die Ärztin oder den Arzt über Video zuschaltet. Interessant ist auch das Tele-Monitoring.
Leidet jemand zum Beispiel an Herzinsuffizienz oder einer chronischen Lungenerkrankung, können kleine Messgeräte Daten sammeln und vollautomatisiert an die Ärztin oder den Arzt übertragen. Mittlerweile können wir sagen, dass telemedizinische Behandlung in einigen Bereichen die Versorgungsqualität signifikant verbessern kann, gegenüber dem Status quo – auf dem Land, wie auch in der Stadt. Aber es wird sicherlich nicht so sein, dass wir schon in naher Zukunft alle Erkrankungsfälle darüber abdecken können. Deswegen ist und bleibt die Sicherstellung der primärärztlichen und notfallmedizinischen Versorgung wichtig.

Beim Arzt-Patient-Kontakt ist die menschliche Ebene bekanntermaßen sehr wichtig. Viele Menschen sind der Meinung, dass Ärztinnen und Ärzte wegen der Bürokratie und des technologischen Wandels immer weniger Zeit für ihre Patientinnen und Patienten haben. Kann man sich da Hoffnung auf Besserung machen?

Ich sehe riesengroße Chancen, dass wir diesbezüglich einige Missstände, die sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben, wieder zurückdrehen können. Also dass die zunehmende Administration, Bürokratie und Dokumentation wieder etwas zurückgedrängt wird, und dass man als Ärztin oder Arzt wieder mehr Zeit hat, mit seinen Patientinnen und Patienten zu kommunizieren. Das wird unter anderem dadurch möglich, weil gewisse Prozesse weniger Zeit in Anspruch nehmen. Nehmen wir einen Diabetiker: Der muss heute kein manuelles Tagebuch auf Papier mehr führen, sondern wird von der Technologie unterstützt. Geht er zu seiner Ärztin, liegen diese Daten dann direkt vor.
Was zur Folge hat, dass Arzt und Patientin sich über die Erkrankung unterhalten können, und sich nicht in der Rekonstruktion von Blutzucker-Werten verlieren müssen. Künftig werden uns auch Sprachmodelle wie ChatGPT enorm entlasten. Etwa dann, wenn es um die Erhebung, Dokumentation und Plausibilitätsprüfung von Daten über lange Zeiträume hinweg geht. Ich halte es durchaus für realistisch, dass Ärzte in absehbarer Zeit wieder 80, 90 Prozent ihrer Zeit für Patienten oder kollegiale Gespräche aufwenden können.

Im Moment ist der technologische Fortschritt in der Medizin für die meisten Menschen allerdings noch überschaubar. Oft funktioniert nicht einmal das E-Rezept einwandfrei. Wo genau im Transformationsprozess verorten Sie die Medizin denn aktuell?

Wir sind tatsächlich noch relativ am Anfang. Und das ist für die meisten Patientinnen und Patienten auch spürbar, denke ich. Es gibt in den meisten Bereichen noch keinen fühlbaren Mehrwert, der im Alltag angekommen ist.

Woran liegt das?

Ein Hauptproblem ist, dass viele Akteure den digitalen Wandel primär als eine Herausforderung gesehen haben, die technologisch zu lösen ist. Viel zu wenig hat man sich bisher auf all jene konzentriert, die diese technologischen Anwendungen praktisch nutzen sollen, also Ärzt:innen, Pflegepersonal, Apotheker:innen, und nicht zuletzt die Patient:innen. Es gibt einen riesigen Qualifizierungsbedarf aller Beteiligten, hinsichtlich der kompetenten Nutzung der Technologien. Das bleibt die zentrale Herausforderung.

Als Vorbilder werden oft die Apps von US-amerikanischen Unternehmen genannt, die kinderleicht zu bedienen sind…

Das Geheimnis des Erfolgs solcher Anwendungen ist meiner Meinung nach die extreme Fokussierung auf die Nutzerinnen und Nutzer. Unser Problem ist, dass im Gesundheitssystem die Gruppe der Nutzenden sehr heterogen ist. Das sind Ärztinnen, Apotheker, Patientinnen, Angehörige, Betreuungspersonen, Krankenkassenmitarbeiter, und so weiter. Damit am Ende ein Produkt herauskommt, das einfach und intuitiv nutzbar ist, sollten alle Personengruppen aktiv in den Entwicklungsprozess von technologischen Anwendungen mit einbezogen werden. In der Praxis geht es immer um Abläufe. Und wenn solche Prozesse im technologischen Endprodukt nicht adäquat abgebildet werden, gibt es Probleme und zeitliche Verzögerungen. Das erleben wir aktuell noch viel zu häufig.

Bei der Weiterentwicklung des Gesundheitssektors müssen wir grundsätzlich immer alle vier Bereiche im Auge haben: die medizinische, die technische, die rechtliche und die ethische Komponente. Nur so erreichen wir eine gesellschaftliche Akzeptanz für unser Vorhaben, die am Ende idealerweise allen nützt.

Hier können Sie den NewHealth.Podcast abonnieren, in dem Professor Kuhn und Moderatorin Alissa Stein regelmäßig mit Gästen aus der Branche sprechen.

Ihr Experte für Digitalisierung im Gesundheitswesen:
Univ.-Prof. Dr. med. Sebastian Kuhn, MME
Direktor des Instituts für Digitale Medizin am Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Marburg, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie