Movember: Warum Depressionen bei Männern so tückisch sind

Movember: Warum Depressionen bei Männern so tückisch sind

Depressionen sind eine weitverbreitete Erkrankung, um die sich viele Mythen ranken. Fakt ist: In Deutschland sind je nach Studie zwischen sechs und acht Prozent der Menschen innerhalb eines Jahres von ihr betroffen.

Wer willens ist, sich helfen zu lassen, hat aber gute Chancen auf Heilung oder zumindest deutliche Linderung der Symptome, sagt Professor Dr. Christoph Mulert, der die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Gießen leitet.

Behandelt werden aber nach wie vor rund drei Mal mehr Frauen als Männer. Und das, obwohl vieles darauf hindeutet, dass es Männer genauso trifft, sie also auch häufig unter Depressionen leiden.

Im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog spricht Professor Mulert über seine Erfahrungen als Arzt, gefährliche Selbstbilder, aber auch sinnvolle und neue Behandlungsmöglichkeiten, die einen Weg aus scheinbar hoffnungslosen Situationen weisen können.

Herr Professor Mulert, rund drei Mal mehr Frauen als Männer werden wegen Depressionen behandelt. Was schließen Sie als Experte daraus?

Grundsätzlich könnte es natürlich einfach so sein, dass Frauen häufiger an Depressionen leiden als Männer. Aber möglich ist eben auch, dass wir die männliche Depression oftmals nicht gut genug erkennen. Auch hierfür kann es wieder verschiedene Gründe geben. Einer davon könnte sein, dass Männer sich seltener Hilfe suchen und sich für ihre eigene Gesundheit weniger interessieren, als Frauen das tun. Verstehen Sie mich nicht falsch: Bestimmte Symptome können bei Männern und Frauen natürlich völlig gleich oder sehr ähnlich sein. Aber es gibt auch Hinweise darauf, dass sich eine Depression bei Männern mitunter ganz anders äußert. Deswegen sollte man hier gegebenenfalls auch auf besondere Warnsignale achten.

Was könnte der Grund dafür sein, dass Männer sich anders verhalten?

Feststellen lässt sich, dass es bei Männern eine besondere „Spielart“ von Depressionen gibt, die sich anders präsentiert als bei Frauen. Verwurzelt sein kann sie zum Beispiel im Anspruch, männlichen Idealen gerecht zu werden, also zum Beispiel die „emotionale Kontrolle“ zu behalten, zu „funktionieren“…

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen Sie das Thema „Weinen“. Für Männer, die sich sehr über ihre Leistung, ihren Erfolg und ihren Status definieren, kann das schwierig sein. Und genau das führt dazu, dass Männer, die depressionsgefährdet sind, sich oftmals mit anderen Symptomen zeigen.

Wie äußert sich das für die Umwelt dieser Männer?

Beobachten lässt sich zum Beispiel, dass Menschen, die immer friedlich und freundlich waren, auf einmal anfangen gereizt zu sein. Sie schreien Leute an, fangen an zu streiten, bekommen Wutausbrüche, die sie nicht mehr kontrollieren können, fangen an Sachen kaputt zu machen, und sie sind oft schnell verärgert.

Das sind also alles Anzeichen für eine vorliegende Depression?

Auch hier ist eine vorschnelle Diagnose natürlich nicht möglich. Einfach weil es natürlich auch Menschen gibt, die grundsätzlich charakterlich leicht reizbar sind. Das ist dann eine andere Baustelle. Aber daneben existieren natürlich auch Leute, die normalerweise „lammfromm“, mindestens aber gut verträglich sind, gleichzeitig aber wahrnehmen, dass sie sehr unter Druck, sehr gestresst sind, und das Gefühl haben, nicht genug Zeit für sich selbst haben. Das Ganze kann sich dann eben auch in Aggression äußern. Daneben gesellt sich oftmals noch eine Komponente bei Männern, die ich vorhin kurz angesprochen habe. Ich nenne sie einmal „ausgeprägte emotionale Kontrolle“. Das ist die Tendenz, „alles in sich hineinzufressen“, weiterhin nach außen zu „funktionieren“, Probleme für sich zu behalten. All diese Dinge sind oft miteinander verbandelt.

Gibt es Fakten, die diese These wissenschaftlich stützen?

Fakt ist zunächst einmal, dass Männer sich, je nach Studie, drei bis zehn Mal häufiger das Leben nehmen als Frauen. Dazu muss man wissen, dass die Hauptursache für Suizide Depressionen sind. Und wenn, laut der Zahlen, Frauen drei Mal so häufig an dieser Krankheit erkranken wie Männer, dann müssten sie sich, nüchtern statistisch betrachtet, ja auch drei Mal so häufig das Leben nehmen. Was eben offensichtlich nicht der Fall ist. Viel deutet also darauf hin, dass viele Männer quasi in die Depression hineinrutschen, sich keine Hilfe suchen, krank bleiben, und dann irgendwann tatsächlich so hoffnungslos sind, dass sie Suizid begehen.

Ist Ihre Beobachtung, dass Männer zunehmend von Depressionen betroffen sind, oder wird die Erkrankung möglicherweise mittlerweile nur häufiger diagnostiziert?

Wenn ich mir die vergangenen Jahrzehnte anschaue, würde ich grundsätzlich von einer tendenziell positiven Entwicklung sprechen. Dahingehend, dass Menschen sich generell häufiger Hilfe suchen, als es früher der Fall war. Und auch die Stigmatisierung von Depressionen spielt keine ganz so große Rolle mehr wie früher. Zu beobachten ist außerdem, dass mittlerweile auch viele Hausärzte hinsichtlich psychischer Erkrankungen Nachfragen anstellen, und sich grundsätzlich viele Menschen nicht mehr für ihre Erkrankung schämen.

Und wie viele betroffene Menschen suchen sich dann tatsächlich professionelle Hilfe?

Zum Glück ist es so, dass Depressionen offenbar zunehmend gut behandelt werden. Das zeigt sich auch daran, dass sich die Suizidrate in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten ungefähr halbiert hat. In den vergangenen Jahren haben wir diesbezüglich leider einen Rückschlag erlitten, also eine Zunahme an Depressionen und Angsterkrankungen.

Würden Sie sagen, dass auch Männer sich bei psychischen Problemen mittlerweile eher professionelle Hilfe suchen?

Im Hinblick auf Depressionen bei Männern würde ich sagen, dass sich hier erst in den vergangenen Jahren eine gewisse Sensibilität entwickelt hat, die natürlich sehr positiv zu bewerten ist.

Kommen Männer denn mittlerweile auch tatsächlich häufiger zu Ihnen, um sich helfen zu lassen?

Durchaus, allerdings von einem deutlich niedrigeren Niveau kommend als Frauen. Das „Hilfesuchverhalten“ von Frauen und Männern ist, denke ich, in vielen Gesundheitsbereichen nicht symmetrisch, und eben besonders nicht beim Thema „psychische Gesundheit“. Eine interessante Beobachtung ist auch, dass junge Menschen eine ganz andere Wahrnehmung für dieses Thema haben als zum Beispiel die Nachkriegsgeneration. Anders ausgedrückt: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein heute 30-Jähriger mit seiner Depression bei uns vorstellt ist größer als die, dass es ein heute 55-Jähriger tut.

Was würden Sie Menschen raten, die sich helfen lassen wollen, aber vor der Behandlung und vielleicht auch vor dem Ort Klinik Angst haben?

Grundsätzlich ist es natürlich zunächst einmal wichtig, mit jemandem in Kontakt zu kommen, der etwas vom Thema psychische Gesundheit versteht. Das sind, wie erwähnt, heute auch immer häufiger Hausärzte. Das liegt an der größeren Sensibilität für das Krankheitsbild, aber auch an einer verbesserten Ausbildung. Wichtig ist natürlich, dass man zu der Person, mit der man spricht, Vertrauen hat. Man kann natürlich auch direkt einen Termin bei einem Psychiater, einem Psychotherapeuten oder in einer Klinik ausmachen.

Je nachdem wie dringend die Situation ist. Was ich persönlich auf jeden Fall sagen kann: In vielen Krankenhäusern gibt es keine netteren Stationen als die Depressionsstationen. Ich meine das wirklich so. Einfach weil hier viel Programm stattfindet, viel „Leben“ herrscht, mit dem Ziel, es den Menschen dort so schön wie möglich zu machen. Das muss nicht notwendigerweise „Kur-Charakter“ haben, aber es geht natürlich um Bewegung, also Sport, Kunsttherapie, Ergotherapie, Musiktherapie, Lichttherapie. Also viele Dinge, die einfach wohltuend sind.

Was erwartet jemanden, der sich dafür entscheidet bei Ihnen vorbeizuschauen?

Wenn jemand bei uns in der Ambulanz vorbeikommt, bieten wir zunächst einmal ein Kennenlerngespräch. Anschließend hört sich ein kompetenter Arzt die individuelle Situation gut an und fragt die entsprechenden Symptome genau ab. Dann folgt die Diagnosestellung, und ein Vorschlag, wie es weitergehen könnte. Bei Menschen mit leichter oder mittelschwerer Depression kann eine Behandlung oft auch ambulant durchgeführt werden. Bei schweren Depressionen dagegen kann es sinnvoll sein, in die Klinik zu kommen, wo es einen sogenannten Gesamtbehandlungsplan gibt. Ein wesentlicher Teil davon ist die Psychotherapie durch psychologische Psychotherapeuten. Und bei schweren Depressionen besteht „die zweite Säule“ der Behandlung oft aus einer medikamentösen Behandlung.

Wie sieht die aus?

Es gibt seit vielen Jahren verschiedene Antidepressiva, die vor allem bei schweren Depressionen sehr wirksam sind. Daneben profitieren wir auch von neuen Entwicklungen, zum Beispiel der Ketamin-IV-Behandlung, bei der die Depressionen oft schon nach wenigen Tagen zurückgehen. Bei Standard-Medikamenten dauert es dagegen typischerweise meist zwei bis drei Wochen, bis die Wirkung spürbar wird. Eine erhöhte Nachfrage gibt es auch hinsichtlich der sogenannten transkraniellen Magnetstimulation (TMS), bei der das Gehirn mit einem Magneten schmerzfrei stimuliert wird.

Mit anderen Worten: Wenn jemand sich eingesteht, dass er Hilfe braucht und sich diese professionelle Hilfe sucht, dann können Sie in den allermeisten Fällen gut helfen?

Absolut. Es ist mir auch wichtig, genau das hier im Gespräch auch noch einmal hervorzuheben. Ich weiß, dass man mit einer Depression „eine dunkle Brille aufhat“ und in vielerlei Hinsicht pessimistisch, aber eben auch oftmals grob verzerrt in die Zukunft blickt. Deswegen ist es auch wichtig, dass man in solch einer Phase keine weitreichenden Entscheidungen trifft, also den Job zu kündigen oder die Partnerschaft zu beenden. Fakt ist: Depressionen lassen sich mittlerweile sehr gut behandeln, unter anderem durch die genannten sehr wirksamen Methoden. Voraussetzung dafür ist natürlich eine korrekte Diagnose.

Kommen denn eigentlich in den grauen Wintermonaten mehr Menschen zu Ihnen als im Sommer?

Das ist ein interessanter Punkt. Vielen Menschen fehlt die Sonne in diesen Zeiten natürlich, darüber hinaus gibt es natürlich weniger schöne gemeinsame Draußen-Aktivitäten, schnelleres Müdewerden, weniger Antrieb, generell also weniger „Stimmung“. So zu empfinden muss aber noch keine Erkrankung sein. Daneben gibt es aber durchaus Menschen, die eine richtige Herbst/Winter-Depression entwickeln. In diesen Fällen sprechen wir von mehr als einem kleinen Minus an Antrieb und Energie, sondern von einer eigenständigen Variante der Depressionserkrankungen, die man behandeln sollte – und kann.

Wie können Sie da helfen?

Wir haben hier große Lichtmaschinen, die ausgiebige Lichtduschen ermöglichen. Eine tolle Entwicklung, und sehr effektiv.

Solche Geräte werden ja auch für Zuhause angeboten…

Sie sind natürlich kein Ersatz für eine echte Depressionsbehandlung, insbesondere dann, wenn man eine schwere Depression hat. Wenn man aber ein bisschen vorbeugen und sein Energielevel ein paar Prozent hinaufschrauben möchte, ist das keine schlechte Sache. Also am besten gleich in der Früh lichtduschen!

Gibt es irgendwelche anderen Tipps, wie man einer Depression vorbeugen kann?

In erster Linie sind soziale Kontakt sehr wichtig.
Einsamkeit ist und bleibt ein großer Risikofaktor, im Hinblick auf die Gefahr an Depressionen zu erkranken, aber natürlich auch im Hinblick auf viele andere psychische Erkrankungen. Wichtig ist auch ausreichende Bewegung. Gerne also trotz Schmuddeltwetters gut einpacken und raus an die Luft, am besten als sanftes Ausdauertraining wie Joggen! Darüber hinaus muss man wissen, dass Menschen, die sehr leistungsbewusst sind und einen Hang zur Perfektion haben, grundsätzlich eher gefährdet sind, depressiv zu erkranken. Deswegen rate ich solchen Menschen gerne, mit den eigenen Ansprüchen zumindest ab und zu etwas lockerer umzugehen. Auch wenn das verständlicherweise oftmals sehr, sehr schwer und ein langwieriger Prozess ist…

Und gesellschaftliche Normen dürften eine große Rolle beim Blick auf sich selbst spielen…

Besonders für Jugendliche und junge Erwachsene ist das ein Riesenthema. Gerade während der Pandemie waren sie besonders stark belastet, weil sie ihre Peer Group besonders dringend brauchen, was in dieser Zeit aber viel zu kurz kam. Auch die sozialen Netzwerke sehe ich kritisch, weil hier viel zu oft scheinbare Perfektion vorgeführt wird. Das ist im Hinblick auf den Ausbruch psychischer Erkrankungen nicht hilfreich, um das mal vorsichtig auszudrücken.

Wenn Sie sich in einer akuten Krise befinden, können Sie sich rund um die Uhr an die nächste psychiatrische Klinik wenden oder den Notruf unter 112 wählen. Auch der Krisendienst in Ihrer Region bietet schnelle Hilfe.

Die Telefonseelsorge erreichen Sie rund um die Uhr und kostenfrei unter 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222.

Das Info-Telefon Depression der Deutschen Depressionshilfe erreichen Sie unter 0800-33 44 533
(Montag, Dienstag, Donnerstag: 13 bis 17 Uhr, Mittwoch, Freitag: 08:30 bis 12:30 Uhr)

Ihr Experte für die Behandlung von Depressionen:
Professor Dr. Christoph Mulert
Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Gießen