Interessenverlust, Freudlosigkeit, ein verminderter Antrieb und erhöhte Ermüdbarkeit: Wie erwachsene Menschen können auch Kinder und Jugendliche unter Depressionen und deren Begleiterscheinungen leiden. Wichtig: Niemand müsse sich dafür schämen, dass er an einer psychischen Erkrankung leidet, sagt Professorin Dr. Katja Becker, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Marburg. Im Interview ermuntert sie Eltern, das Gespräch mit ihren Kindern zu suchen, wenn diese traurig wirken und sich zurückziehen. Außerdem erklärt sie, wann professionelle Hilfe gefragt ist und auf welchen drei Ebenen sich eine Depression abspielt.
Was raten Sie all jenen Eltern, die merken, dass ihr Kind traurig ist und sich zuhause verkriecht?
Zunächst sollten Eltern einmal selbst mit ihrem Kind sprechen, wenn Ihnen Traurigkeit und Rückzug auffallen, und nach den Gründen fragen. Gibt es ein Problem in der Schule, kann unter Umständen auch ein klärendes Gespräch mit den Lehrern helfen. Manchmal hat das Kind auch Stress, der von Mobbingsituationen herrührt oder von Krach mit der Freundin oder dem Freund. Das sind dann alles lösbare und mit Unterstützung zu bewältigende Probleme.
Und wenn das Eltern-Kind-Gespräch nicht weiterhilft?
Wenn man sich als Eltern Sorgen macht, das Kind länger freudlos ist und sich zurückzieht, sollte man für eine erste Beratung den Kinderarzt aufsuchen, der das Kind kennt. Wenn die Traurigkeit und die begleitenden Probleme stark ausgeprägt sind, und es auch keine nachvollziehbaren Gründe mit Lösungsmöglichkeiten gibt, sollte ein Termin beim Kinder- und Jugendpsychiater gemacht werden. Häufig ist es so, dass junge Menschen mit einer Depression all diejenigen Dinge nicht mehr tun oder können, an denen sie früher Spaß hatten. Sie gehen nicht mehr nach draußen, leiden häufig unter Schlafstörungen, manchmal auch Appetitverlust. Bei Jugendlichen können auch noch Gefühle der Wertlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und sogar Suizidgedanken dazu kommen.
Wie häufig sind Kinder und Jugendliche denn von Depressionen betroffen?
Im Kindesalter treten depressive Störungen seltener auf als bei Jugendlichen oder Erwachsenen. Kinder sind mit einer Häufigkeit von 1,5 Prozent betroffen. In jungen Jahren leiden Mädchen und Jungen noch gleich häufig an Depressionen. Im Jugendalter nimmt die Häufigkeit dann zu, hier sind fünf Prozent betroffen, und zwar Mädchen doppelt so häufig wie Jungen. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken, mit zunehmendem Alter steigt.
Warum sind Mädchen denn häufiger betroffen als Jungen?
In der Pubertät spielen hormonelle Aspekte eine Rolle. Man kennt ja zum Beispiel auch die Wochenbettdepression nach einer Entbindung, bei der ebenfalls Hormonumstellungen mitverursachend sind. Außerdem entscheidet die Art und Weise, wie man mit verschiedenen schwierigen Lebenssituationen umgeht, ob man eher eine depressive Verstimmung entwickelt. Hier unterscheiden sich Mädchen von Jungen. Mädchen internalisieren tendenziell eher als Jungen, wie wir Ärzte das nennen. Das heißt, sie suchen, wenn Dinge schlecht laufen, die Schuld eher bei sich selbst als bei anderen, machen sich selbst Vorwürfe oder fühlen sich schuldig. Jungen hingegen reagieren in solchen Situationen tendenziell eher nach außen und eher aggressiv. Das gilt aber nur für die Gruppe von Mädchen und Jungen und nicht für jeden Einzelfall. Natürlich gibt es auch Jungen, die depressiv, und Mädchen, die aggressiv sind.
Was ist das Besondere, wenn man als Therapeutin mit Kindern zutun hat?
Je jünger ein Kind ist, desto weniger kann es entwicklungsbedingt über seine eigene Stimmungslage zuverlässig berichten bzw. sein Gefühlsleben in Worte fassen. Bei einem Kind im Kindergartenalter sieht man zum Beispiel von außen, dass das Kind traurig ist und dass es ihm nicht gut geht. Aber es würde die Frage danach, ob es traurig ist oder es ihm nicht gut geht, verneinen. Einfach, weil es noch nicht differenziert berichten kann, wie es ihm geht.
Und bei Jugendlichen?
Im Jugendalter sind die Jugendlichen selbst diejenigen, die über ihre Gefühlslage am besten Auskunft geben können, während Eltern hier oft nicht mehr wissen, wie es ihrem Kind eigentlich geht. Denn typischerweise sprechen Teenager weniger mit ihren Eltern darüber, wie es ihnen geht, und allgemein über ihr Gefühlsleben.
Ab wann kann man denn sagen, dass eine Depression vorliegt? Wo grenzt man das Krankheitsbild von einer länger andauernden Niedergeschlagenheit ab?
Eine wichtige Faustregel lautet: Sobald Eltern beginnen, sich ernsthaft um ihr Kind Sorgen zu machen, sollten sie Hilfe suchen. Dann erfolgt eine entsprechende fachliche Diagnostik und ausführliche Beratung. Bei einigen hilft schon eine Beratung, bei anderen ist eine Behandlung/Therapie notwendig.
Was gilt es zunächst abzuklären?
Es geht um die Frage, wie schwer die Symptome, also Beschwerden, wiegen, und ob es einen äußeren Grund gibt. Natürlich gibt es im Leben auch immer mal wieder traurige Phasen, zum Beispiel dann, wenn ein Familienangehöriger gestorben ist oder ein Umzug das Kind oder den Jugendlichen vor große Herausforderungen stellt. Dass es einem Menschen in solch einer Situation nicht immer gut geht, ist normal.
Wann wird es gefährlich?
Neben diesen Phasen von Traurigkeit gibt es Situationen, die man besonders ernst nehmen muss und zwar unabhängig davon, wie lange sie bestehen. Beispielsweise dann, wenn das Kind lebensmüde Gedanken, Hoffnungslosigkeit oder große Verzweiflung äußert. Suizidalität ist die zweithäufigste Todesursache im Jugendalter. Solche Situationen bzw. Äußerungen müssen zwingend ernst genommen und nicht leichtfertig abgetan werden!
Werden solche suizidalen Gedanken Ihrer Erfahrung nach häufig nach außen kommuniziert?
Ja, nach Studien werden Gedanken an Suizid in acht bis neun von zehn Fällen vorher mitgeteilt. Nicht immer den Eltern, sondern im Jugendalter häufiger Gleichaltrigen. Wichtig ist es, dass man danach fragt und dem Jugendlichen zeigt, dass man seine Sorgen ernst nimmt und ihm helfen will, dass sich die Situation verbessert. Wenn ein Jugendlicher Suizidgedanken äußert, muss man das immer sehr ernst nehmen. Wir Ärzte nennen solche Situationen „Red Flags”, rote Flaggen: Treten sie auf, müssen wir sofort aktiv werden. Hier darf man keinesfalls entspannt abwarten, ob oder wie sich die Situation vielleicht verändert. In solchen Fällen spielt die Frage danach, ob nun eine Depression vorliegt oder nicht, eine untergeordnete Rolle. Zunächst geht es um schnelle Hilfe. Hier muss dann umgehend ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie klären, ob es sich um eine akute Suizidalität handelt, also einen Notfall mit sofortiger Handlungsnotwendigkeit, oder ob noch eine Absprachefähigkeit vorliegt, und was die nächsten Schritte sein sollten.
Wann werden Sie als Ärztin grundsätzlich hellhörig, wenn Sie sich die Probleme von Kindern anhören?
Dann, wenn es dem Kind nicht gut geht, und diese Situation länger andauert. Eltern merken auch oft, dass ihr Kind seinem gewohnten Leben und altersgerechten Anforderungen nicht mehr hinreichend nachkommen kann. Wir Ärzte betrachten in solchen Fällen das sogenannte Funktionsniveau, fragen also: Ist das Kind in seinen üblichen psychosozialen Lebensbezügen beeinträchtigt? Klappt es also in der Schule, also etwa mit der Leistung, mit Mitschülern, im Klassenverbund? Trifft sich das Kind mit Freunden? Hat es Hobbys? Gibt es ein gutes gemeinsames Familienleben? Wenn es in diesen Bereichen nicht „funktioniert“, das Kind also psychosozial so beeinträchtigt ist, dass es diese altersentsprechend üblichen Anforderungen nicht mehr bewältigen kann, braucht es Unterstützung.
Wie kann diese Unterstützung bei einer Depression denn aussehen?
Wir unterscheiden Depressionen anhand ihres Schweregrades. Bei einer leichten depressiven Episode genügt oft eine individuelle Beratung. Eine Psychotherapie ist hier oftmals noch nicht erforderlich. Ab einer mittelgradigen depressiven Episode braucht es in jedem Fall eine psychotherapeutische Unterstützung, bei manchen, wenn diese nicht ausreichend ist, auch eine medikamentöse Unterstützung mit Antidepressiva, also Medikamenten gegen Depressionen. Bei einer schweren Episode sollten Ärzte zudem prüfen, ob eine stationäre Behandlung sinnvoll ist. Dann reicht es nämlich oft nicht, einmal pro Woche eine Stunde mit einem Psychotherapeuten zu sprechen.
Wie können Sie neben einer Psychotherapie helfen?
Wir kümmern uns zum Beispiel auch um die sogenannte Aktivierung, denn wir wissen: Wenn der Patient keine Freude mehr verspürt oder verspüren kann aufgrund seiner Erkrankung, dann kann er logischerweise keine positiven Erfahrungen mehr machen. Und das führt zu Rückzug und Vermeidung, und verschlimmert wiederum die Depression. Ein wichtiger Weg ist also, den Patienten sportlich zu aktivieren, ihn in Gruppenaktivitäten einzubinden, Dinge wie Ergotherapie und andere Co-Therapien durchzuführen und das Kind durch Stationsaktivitäten und Ausflüge gezielt zu motivieren.
Wie kann man die komplexe Krankheit Depression einem Laien erklären?
Wir stellen verschiedene Symptome auf drei verschiedenen Ebenen fest: Auf der emotionalen Ebene existiert eine Störung der Stimmung, die sich in Traurigkeit, aber auch dem Gefühl der Gefühllosigkeit und/oder Angst äußern kann. Manche Betroffene weisen auch ein reduziertes Selbstwertgefühl oder Schuldgefühle auf. Viele Kinder denken zum Beispiel, sie wären schuld, dass ihre Eltern sich haben scheiden lassen oder dass diese sich streiten. Auf der zweiten, der Verhaltensebene, gibt es Antriebsstörungen. Das heißt, dass das Kind bzw. der Jugendliche einen geringeren Antrieb hat und bestimmte Dinge nicht mehr tut und/oder sich dazu nicht mehr aufraffen kann. Betroffene gehen zum Beispiel nicht mehr nach draußen, machen weniger Sport, sind häufig müde, erschöpft und ziehen sich ins Bett zurück. Und dann existiert noch die kognitive Ebene, die gedankliche Dimension. Diese äußert sich in automatischen negativen Gedanken und auch in Konzentrationsstörungen, in Grübeln oder Alles-durch-eine-schwarze-Brille-Sehen. Hier können auch Todeswünsche und Suizidgedanken entstehen.
Welche Rolle spielen Medikamente bei der Behandlung einer Depression?
Bei einer schweren depressiven Episode muss man das Kind oder den Jugendlichen stationär aufnehmen. In der Regel ist hier eine Medikation unterstützend und parallel zur Psychotherapie sinnvoll. Bei einer mittelgradigen Ausprägung ist es so, dass unsere Leitlinien sagen: Entweder Psychotherapie alleine oder Medikation oder beides. Fakt ist aber auch: Manche Kinder verbessern sich bereits deutlich durch die hier in der Klinik stattfindende Aktivierung, Integration in die Station und eine begleitende Psychotherapie, sodass wir keine ergänzende Pharmakotherapie benötigen. Das ist aber natürlich einzelfallabhängig.
Gibt es Nachteile, die gegen das Einnehmen von Medikamenten sprechen?
Die Medikamente, die bei einer Depression verordnet werden, sogenannte Antidepressiva, brauchen eine ganze Zeit lang, bis sie wirken. Es ist nicht so, dass man sie einnimmt, und am nächsten Tag geht es einem schon besser. Man dosiert sie vorsichtig, damit sie gut vertragen werden. Eine Wirkung kommt dann nach ungefähr vier oder sechs Wochen.
Können Kinder einer Depression denn vorbeugen?
Was für einen jungen Menschen immer positiv ist, sind Freude bringende Hobbys, gut in einen Freundeskreis integriert zu sein und soziale Unterstützung. Darüber hinaus sind ausreichend Bewegung, genug Schlaf und eine gesunde Ernährung wichtig. Positiv sind auch ein positives Selbstkonzept und die Überzeugung, Probleme lösen zu können. Aber auch, wenn man diese Ratschläge alle befolgt, lässt sich nicht ausschließen, dass man irgendwann in seinem Leben an einer Depression erkrankt. Zumindest aber wird es die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass das Kind gesünder lebt.
Kann eine Depression sich eigentlich schnell wieder verziehen?
Depressive Episoden dauern unterschiedlich lange und sie gehen nicht von einem Tag auf den anderen weg, sondern die Stimmung wird langsam besser. Um es mit einem Bild zu vergleichen: Es ist nicht wie ein Lichtschalter („Licht an, Licht aus“), sondern eher wie ein Dimmer. Oftmals ist es so, dass sich einzelne Symptome nach und nach verbessern. Der Betroffene findet nicht von Jetzt auf Gleich in eine normale, das heißt: ausgeglichene Stimmungslage, zurück. Manchmal wird zuerst der Antrieb besser und damit der Aktivitätsgrad höher, die negativen Gedanken gehen zurück, und die Stimmung verbessert sich erst in Folge. Wenn jemand an einer schweren Depression leidet, arbeiten wir Ärzte und Psychotherapeuten multimodal, also an verschiedenen Bereichen. Wir kümmern uns um die Gedanken, verbessern die Aktivierung und beraten den Patienten und seine Familie ausführlich und unterstützend. Fakt ist: Eine Depression ist gut behandelbar.
Ihre Expertin für Depressionen bei Kindern und Jugendlichen:
Prof. Dr. Katja Becker
Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Marburg