Eines Tages an einer neurodegenerativen Erkrankung wie Alzheimer zu erkranken – diese diffuse Angst beschäftigt viele Menschen. Besonders dann, wenn sich in der eigenen Familie derartige Krankheitsfälle häufen, kann die Ungewissheit lähmend wirken.
Zwar kann die Medizin Demenzerkrankungen noch immer nicht komplett stoppen. Mittlerweile ist sie aber dabei, große Fortschritte in der Diagnostik und der Therapie zu erzielen.
In den vergangenen Jahren ist diesbezüglich derart viel passiert, dass Professor Dr. Lars Timmermann jetzt von einer „Zeitenwende“ spricht: „Im Bereich der Demenz-Forschung passieren im Moment einige fundamentale Dinge“, sagt er im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog: „Uns Ärztinnen und Ärzten ist es zum ersten Mal möglich, bei einer neurodegenerativen Demenz-Erkrankung wirklich direkt in den Krankheitsmechanismus einzugreifen und damit das Voranschreiten der Erkrankung auch mittelfristig abzubremsen.“
Der Spezialist für Demenzerkrankungen ist Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Marburg und gilt als einer der Top-Demenzexperten. Zudem ist er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).
Im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog spricht er über Gedächtnis- und Konzentrationsschwierigkeiten, revolutionäre Ansätze im Bereich der Diagnose und Therapie, und über die Möglichkeiten, einer Demenzerkrankung sinnvoll vorzubeugen.
Herr Professor, was sich wahrscheinlich viele unter uns fragen: Ab wann muss ich Angst vor einer Demenz haben? Schon dann, wenn ich ab und an einmal etwas vergesse?
Diese Unsicherheit oder sogar Angst bei Problemen mit Gedächtnis oder Konzentration erlebe ich ständig, und sie ist nachvollziehbar und normal. Viele Menschen haben eine diffuse Angst, Demenz zu entwickeln. Wichtig ist zunächst einmal, sich klarzumachen: An uns allen nagt der Zahn der Zeit. Und alle, die älter als 30 Jahre alt sind, merken: Gedächtnis und Konzentration werden von Jahr zu Jahr ein bisschen schlechter. Das lässt über die Jahrzehnte natürlich auch nicht nach, sondern wird schlimmer. Aber nicht alles: Es gibt sogenannte kristalline Anteile, die „scharf bleiben“. Das wird zum Beispiel in Altersheimen deutlich, wo selbst sehr alte Menschen noch sehr gut mitbekommen, wie soziale und emotionale Verbindungen verlaufen. Außerdem muss man anmerken, dass Einschränkungen von Gedächtnis und Konzentration auch Ausdruck ganz anderer Erkrankungen sein können, die nichts mit Demenz zutun haben. Zum Beispiel Stoffwechselstörungen, bis hin zum Schlaganfall. Aber, natürlich: Es gibt auch die gefürchteten Demenzerkrankungen. Besonders bekannt ist hier natürlich der Morbus Alzheimer, vor dem die meisten Menschen Angst haben.
Warum sprechen Sie hinsichtlich der Diagnose und Therapie jetzt von einer „Zeitenwende“?
Weil wir von der Wissenschaft im Moment völlig neue Werkzeuge an die Hand bekommen, die uns bei der Diagnostik und Therapie des Morbus Alzheimer und ähnlicher Erkrankungen in naher Zukunft sehr helfen werden.
Was ist denn jetzt schon möglich, und was kommt noch?
Schon seit einigen Jahren haben wie die Möglichkeit, im Nervenwasser sogenannte Demenzmarker festzustellen, also Hinweise darauf, dass eine Demenz vorliegt. Wir können also denjenigen Menschen, die von leichten Störungen berichten, dann mit großer Sicherheit und – das ist wichtig – schon ziemlich frühzeitig sagen, ob sie an einer Demenzerkrankung leiden. Neu ist jetzt, dass wir diese Marker künftig nicht nur im Nervenwasser, sondern auch im Blut bestimmen können, was einer kleinen Revolution gleichkommt.
Warum?
Weil ein Bluttest wesentlich einfacher und weniger invasiv ist als die sogenannte Lumbalpunktion, bei der Nervenwasser entnommen wird.
Der Fokus der Diagnose liegt also auf der Früherkennung?
So ist es. Diesbezüglich kann ich auch noch auf eine Studie verweisen, an der wir im Moment gemeinsam mit anderen Kliniken arbeiten. Auch sie zielt darauf ab, Alzheimer möglichst früh festzustellen. Zentral hierbei ist die Entdeckung des Eiweißes Beta-Amyloid im Gehirn eines Menschen. Diese Entwicklungen im Bereich der Diagnostik sind der erste Teil der Zeitenwende. Der andere Teil ist sogar noch spannender, weil es um die Therapie von Demenzerkrankungen geht.
Was ist auf diesem Gebiet der Stand der Dinge?
Schon vor Jahren haben wir gelernt, dass unseren Patientinnen und Patienten regelmäßige Bewegung und kognitives Training guttun können. Zudem haben wir schon seit Jahrzehnten die sogenannten Antidementiva. Das sind zwar keine „Einstein-Pillen“, sie können aber bei dem ein oder anderen den Alltag spürbar verbessern und in vielen Fällen den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen. Aber ein Problem ist geblieben: An den eigentlichen degenerativen Demenzprozess sind wir nicht „herangekommen“, konnten also nicht medizinisch in ihn eingreifen.
Was ist der Grund dafür?
Zunächst einmal ist das schon deshalb tragisch, weil Experimente mit Mäusen diesbezüglich seit zwei Jahrzehnten gelingen. Während der Jahrtausendwende ist es erstmals gelungen, bei Mäusen über Antikörper das genannte Beta-Amyloid aus dem Maushirn quasi „herauszuwaschen“. Und spätestens dann war klar, dass das irgendwie auch bei uns Menschen funktionieren sollte. Einer der ersten Wirkstoffe in der Klinik war Aducanumab, ein Antikörper, der in den USA eine Reihe von Studien durchlaufen hat und zunächst auch sehr vielversprechend gewesen ist. Einfach deswegen, weil es gelungen ist, die „Alzheimer-Pathologie“ wie erwähnt aus dem Gehirn „herauszuwaschen“.
Das Problem war, dass es bei diesem Vorgang immer wieder zu Entzündungen und gelegentlich auch zu einer Hirnblutung kommen konnte. Erkenntnis der Studie war folglich, dass der Effekt zwar nicht besonders groß, aber zumindest wahrnehmbar ist.
Mit welchem Ergebnis für das Medikament?
Der Wirkstoff Aducanumab ist in den USA eingeschränkt zugelassen worden, bei uns in Europa dagegen nicht. Und in den kommenden Jahren werden wir wissen, ob er den betroffenen Menschen wirklich geholfen hat. Eine zentrale Frage, die geblieben ist: Sollte man Aducanumab den Patient:innen viel früher verabreichen? Oder kann man in der Entstehung von Alzheimer-Plaques eventuell schon früher das Zusammenklumpen dieser krankhaften Eiweiß-Klumpen verhindern? Aus dieser Überlegung heraus ist dann der Wirkstoff Lecanemab entstanden.
Gibt es schon Hinweise auf die Wirksamkeit?
Grundsätzlich wichtig zu wissen ist, dass die Biochemie hier schon eine Stufe früher ansetzt als bei Aducanumab, also bevor es zu den Verklumpungen des Beta-Amyloids kommt. Vielversprechend ist, dass hier die Studiendaten wesentlich besser ausgesehen haben. Das heißt: Ein besserer Effekt für die Patient:innen, bei weniger Nebenwirkungen. Somit ist die „Zeitenwende“ jetzt quasi auf dem Weg. Uns Ärztinnen und Ärzten ist es also zum ersten Mal möglich, bei einer neurodegenerativen Demenz-Erkrankung wirklich direkt in den Krankheitsmechanismus einzugreifen und damit das Voranschreiten der Erkrankung auch mittelfristig abzubremsen. Von „stoppen“ zu sprechen, wäre allerdings noch etwas zu optimistisch.
Wann rechnen Sie denn mit einer Zulassung von Lecanemab in Deutschland?
Das ist schwer abzuschätzen. Ich persönlich glaube: im Laufe des Jahres 2023.
Zudem gibt es aktuell Neuigkeiten zum Medikament Donanemab…
So ist es. Am 17. Juli sind neue, sehr ermutigende Daten zu einem weiteren Antikörper in der Alzheimer-Therapie veröffentlicht worden: Donanemab hat eine Reduktion im Voranschreiten des Morbus Alzheimer klinisch gezeigt, wie auch eine erhebliche Reduktion in den Alzheimer-Veränderungen in den Patienten, die Donanemab bekamen – und kein Placebo. Diese Ergebnisse sind wirklich ermutigend, und geben Anlass zur Hoffnung, dass wir die Krankheit sehr bald abbremsen können. Aber: Auch in dieser Studie hat es sehr kritische Verläufe und wenige Todesfälle gegeben. Das erklärte Ziel bleibt: Wir müssen versuchen, den betroffenen Menschen frühestmöglich zu helfen. Dafür ist es wichtig, dass die Demenzerkrankung schon in frühen Jahren entdeckt wird.
Das heißt, Sie schlagen regelmäßige Screenings vor?
Genau. Wir hier in Marburg arbeiten gerade an digitalen Werkzeugen, die es uns ermöglichen, schon sehr früh Hinweise auf Demenzerkrankungen zu bekommen. Wichtig ist festzuhalten, dass Menschen, die solche Screenings durchlaufen, zu diesem Zeitpunkt noch nicht „krank“ sind, also als „gesund“ gelten. Aber dennoch tragen sie das in sich, was wir Mediziner „Hochrisikokonstellation“ nennen. Das heißt: ein hohes Risiko, später zu erkranken. Zu diesem Zeitpunkt könnte eine krankheitsverändernde Infusionstherapie, zum Beispiel mit Lecanemab, schon ansetzen. Und im Idealfall dann eben dafür sorgen, dass die betroffene Person mit ihrer Familie einen Alzheimer nie erleben muss. Das wäre grandios.
Sofern man nicht genetisch vorbelastet ist: Kann man Demenzerkrankungen im Alltag vorbeugen?
Fakt ist: Wesentliche Risikofaktoren für neurodegenerative Erkrankungen sind unter anderem Schlaganfälle, Hirnblutungen und Kopftraumata, aber eben auch Übergewicht. Wir können unser individuelles Risiko der Entstehung einer Demenz signifikant reduzieren, indem wir uns regelmäßig bewegen und ausreichend und qualitativ gut schlafen. Und indem wir unseren Alkoholkonsum mäßigen. Insbesondere ist es auch wichtig, den eigenen Blutdruck in den Griff zu bekommen, uns sportlich betätigen und ausreichend soziale Interaktion haben. Interessant ist in dieser Beziehung auch, dass es einer Demenz offenbar vorbeugt, wenn wir uns ein Leben lang mit möglichst vielen Dingen intellektuell anspruchsvoll auseinandersetzen. Zusammengefasst: Wir müssen nicht nur auf neue Medikamente warten: Jeder von uns kann täglich etwas für die eigene Hirngesundheit tun!
Ihr Experte für Demenzerkrankungen:
Professor Dr. Lars Timmermann
Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Marburg