Kampf der Adipositas – Wie ein ganzheitliches Konzept Betroffenen hilft

Kampf der Adipositas – Wie ein ganzheitliches Konzept Betroffenen hilft

In der Adventszeit und besonders nach den Weihnachtsfeiertagen dreht sich die Berichterstattung vieler Medien verlässlich ums Thema Abnehmen. Aus den Augen gerät dabei, dass Fettleibigkeit für viele Menschen kein kurzfristiges und kein ausschließlich ästhetisches Problem ist, sondern oftmals Teil eines komplexen Krankheitsbildes. Dieses ist häufig mit Bluthochdruck oder auch Diabetes Typ-2 einhergehend, die vorhandene gesundheitliche Probleme deutlich verschärfen.

Adipositas, auch Fettleibigkeit genannt, stellt für viele Menschen ein ernsthaftes gesundheitliches Problem dar, was zu einer deutlich reduzierten Lebenserwartung führen kann.

Hilfe erhalten Betroffene über eine professionelle und interdisziplinär ausgerichtete Behandlung, wie sie vom Universitären Adipositaszentrum Mittelhessen (UAZM) am Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Gießen angeboten wird.

Im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog sprechen Privatdozent Dr. Thilo Sprenger, Sektionsleiterleiter Adipositas- und Metabolische Chirurgie, und Diplom-Ernährungswissenschaftlerin Dr. Annette Hauenschild über das Gesamtkonzept dieses Zentrums, konservative Möglichkeiten der Gewichtsreduktion, mögliche Operationen – und Erfolgsgeschichten.

Herr Dr. Sprenger, viele an Adipositas leidende Patienten werden zu Ihnen kommen und gleich nach einer OP fragen. Wann ist eine solche sinnvoll?

Dr. Sprenger: Es gibt klar vorgegebene Regeln in Deutschland, die man beachten muss bevor man operiert. Wichtige Faktoren, die die Entscheidung beeinflussen, sind Körpergewicht, Body-Mass-Index (BMI) und die in den meisten Fällen vorliegenden Nebenerkrankungen, die Adipositas-assoziiert sind, also mit der Fettleibigkeit in direktem Zusammenhang stehen.

Welche Werte sind da ausschlaggebend?

Dr. Sprenger: Ab einem Body-Mass-Index von 35  kann operiert werden, dann müssen allerdings mindestens zwei Adipositas-assoziierte Nebenerkrankungen vorliegen. Das wären beispielsweise Diabetes Typ-2, Bluthochdruck, das obstruktive Schlafapnoe-Syndrom oder muskuloskelettale Beschwerden. Ab einem Body-Mass-Index von 40 kann auch ohne Vorliegen von Nebenerkrankungen die Operationsindikation gestellt werden, wenn konservative Maßnahmen nicht zum Erfolg geführt haben. Das sind zunächst die formellen Kriterien.

Und die anderen Kriterien sind…

Dr. Sprenger:

Wichtig ist, dass wir hier am Universitätsklinikum Gießen und Marburg eine ganzheitliche Adipositas-Therapie anbieten. Wir sind also nicht zwangsläufig und schon gar nicht primär auf das Operieren fokussiert.

Zudem behandeln wir ja auch Menschen, die zwar übergewichtig, aber eben noch nicht stark übergewichtig, also morbid adipös sind. Grundsätzlich bieten wir jedem Patienten, der zu uns kommt, ein maßgeschneidertes Therapiekonzept an, das sich an der individuellen Situation des Patienten orientiert.

Auf welchem Weg erreichen Sie die Betroffenen?

Dr. Sprenger: Teilweise kommen die Patienten direkt zu uns in die Klinik, weil sie durch ihre  Erkrankung oftmals in ihrer Lebensqualität eingeschränkt sind und in vielen Fällen auch zunehmend Medikamente einnehmen müssen. Dieser Aspekt steht bei vielen im Mittelpunkt. Bluthochdruck und Diabetes tun halt zunächst einmal nicht weh. Hier läuten dann beim hausärztlichen Kollegen oder beim Diabetologen die Alarmglocken und sie überweisen die Patienten zu uns. Eine effektive Adipositastherapie ist dann die kausalste Behandlung, die es für das Metabolische Syndrom gibt. Fakt ist, dass bei vielen Patienten, die bereits im jungen Erwachsenenalter Blutdruck- oder Diabetes-Medikamente einnehmen, die statistische Lebenserwartung deutlich sinkt.

Welche Maßnahmen können abseits einer Operation helfen?

Dr. Annette Hauenschild: Unser Adipositas-Zentrum bietet eine breite Palette an Programmen an, neben Verhaltenstherapie auch Ernährungsberatung.

Bei den meisten Betroffenen mangelt es ausdrücklich nicht am Wissen über die richtige Ernährung. Es handelt sich oft mehr um ein Problem der Umsetzung. Die Menschen wissen in der Regel ganz genau, was sie falsch machen. Das Problem ist jedoch, dass sie immer wieder in bestimmte Verhaltensweisen hineinrutschen. Also wird abends nach dem Nachhausekommen der Kühlschrank aufgemacht, als Belohnung quasi.

Was tun Sie dagegen?

Dr. Hauenschild: Ziel unseres Programms ist es, diese wiederkehrenden Verhaltensweisen aufzudecken, selbst zu erkennen, und dann Wege und Strategien zu finden, aus diesen Mustern herauszufinden. Ein wesentlicher Aspekt unseres Programms ist auch die langfristige Begleitung eines jeden unserer Patienten. Das läuft ein ganzes Jahr lang, die Teilnehmer kommen für zwölf Monate jede Woche zu uns. Im Rahmen der Ernährungsberatung gehen wir zum Beispiel zusammen einkaufen. Wichtig ist zudem, dass wir in Gruppen von zehn bis 15 Teilnehmern gemeinsam arbeiten. Unsere Patienten unterstützen sich so gegenseitig und können auf Wunsch hier ein Leben lang nachbetreut werden. Dieses Angebot nehmen viele an.

Woran leiden denn die meisten Ihrer Patienten?

Dr. Sprenger: Die meisten Patienten leiden wenn sie zu uns kommen bereits an der sogenannten morbiden Adipositas Grad 3, sprich: einen Body-Mass-Index von über 40. Sofern die Patienten dazu motiviert sind, bisherige konservative Maßnahmen keinen ausreichenden Effekt hatten und keine Gegenargumente von medizinischer Seite her vorliegen, ist es vielfach auch sinnvoll zu operieren.

Wie komplex ist solch ein operativer Eingriff?

Dr. Sprenger: Die Operationen werden minimal-invasiv, also ohne größere Schnitte in sogenannter „Schlüsselloch-Technik“ durchgeführt. Risiken sind – wie bei jeder anderen Bauchoperation auch – vorhanden, aber in Zentren mit hoher medizinischer Expertise sind die Komplikationsraten sehr niedrig. Eine gewünschte Gewichtsabnahme ist in fast allen Fällen zu beobachten. Wir können davon ausgehen, dass unsere Patienten durch die Operation regelhaft etwa 80 Prozent ihres Übergewichtes verlieren.

Wie funktioniert das technisch?

Dr. Sprenger: Wichtig ist zu wissen: Das Fett wird nicht abgesaugt. Stattdessen stellen wir mit der Operation den Weg der Nahrung durch den Magen-Darm-Trakt und damit den Stoffwechsel des Patienten komplett um. Innerhalb von Monaten verbrennt der Körper dann, je nach Ausgangsgewicht, 40, 50 oder teilweise sogar bis zu 100 Kilogramm. Nach einer gewissen Zeit stellt sich eine Art stabile Phase der Gewichtsentwicklung ein, was verhindert, dass adipöse Menschen plötzlich zu wenig Gewicht haben. Ziel der Operation ist, dass die Patienten normalgewichtig oder allenfalls etwas übergewichtig werden – und vor allem dauerhaft bleiben. Aufpassen müssen wir, dass keine Mangelerscheinungen hinsichtlich der Versorgung mit Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen auftreten. Das sicherzustellen, ist unter anderem Aufgabe einer langfristigen Nachsorge, die zwingend zur Operation dazugehört.

Welche Auswirkungen hat die Operation auf Krankheiten, die die Adipositas oftmals begleiten?

Dr. Sprenger: Das sind ganz wichtige Effekte. Die Gewichtsabnahme ist tatsächlich nur ein Aspekt einer solchen Operation. Ziel ist es, die angesprochenen Nebenerkrankungen idealerweise vollständig zu beseitigen oder zumindest deutlich zu verbessern. Die meisten unserer Patienten können ihre Blutdruckmedikamente ein paar Monate nach der Operation in Zahl und Dosis deutlich reduzieren oder sogar absetzen. Bei Typ-2-Diabetikern hängt viel davon ab, wie lange die Krankheit schon besteht. Im besten Fall kann der Diabetes langfristig verschwinden, auch wenn der Patient im Vorfeld bereits Insulin spritzen musste. Auch die obstruktive Schlafapnoe wird beseitigt und Gelenksarthrosen bessern sich in vielen Fällen merklich.

Und welches Verhalten erwarten Sie vom Patienten?

Dr. Sprenger: Wichtig ist, dass die Patienten sich gut aufgeklärt und motiviert mit uns gemeinsam auf den Weg zur Operation machen. Zu einem solchen Eingriff darf man niemanden überreden, selbst wenn wir objektiv eine hohe medizinische Dringlichkeit sehen. Der Patient kann natürlich viel zum Gesamterfolg beitragen, zum Beispiel durch eine bewusste Ernährungsumstellung und eine Verhaltensmodifikation hinsichtlich Ernährungs- und Essgewohnheiten. Beispielsweise also auf gewohnte, möglicherweise stark zucker- oder fetthaltige Nahrungsmittel zu verzichten und lieber Wasser oder Tee statt Süßgetränke zu sich zu nehmen.
Grundsätzlich ist wichtig, dass der Patient gut vorbereitet ist und demzufolge in der Lage ist, mitzuhelfen, ein auch für sich selbst zufriedenstellendes Ergebnis zu erzielen.

Das alles klingt nach einer psychischen Herausforderung.

Dr. Hauenschild: Bevor die Patienten operiert werden, machen wir neben den körperlichen Untersuchungen auch einen Termin in unserer Psychosomatischen Klinik. Von den Experten dort wollen wir wissen, ob der Patient nach der Operation mit seiner neuen Situation klarkommt. Tatsächlich gibt es einige Patienten, die mit ihrem neuen, deutlich geringeren Körpergewicht psychische Probleme entwickeln. Patienten, die bei uns in der Nachbetreuung sind, sind allerdings in den allermeisten Fällen mit ihrer getroffenen Entscheidung zufrieden – und bezeichnen sie nicht selten als die beste ihres Lebens.

Ihre Experten zur Adipositasbehandlung:

PD Dr. Thilo Sprenger

PD Dr. Thilo Sprenger
Oberarzt, Leiter der Sektion Adipositaschirurgie
Universitätsklinikum Gießen und Marburg

 

Dr. oec. troph. Annette Hauenschild

Dr. oec. troph. Annette Hauenschild
Ernährungskommission des UKGM, Adipositaszentrum
Universitätsklinikum Gießen und Marburg