Statistisch gesehen leidet eines von 7.000 Neugeborenen weltweit an der sogenannten Spinalen Muskelatrophie (SMA). Diese Erbkrankheit, die Nervenzellen schädigt, welche für die Bewegung der Muskulatur, einschließlich der Atemmuskulatur, zuständig sind, gehört zu den seltenen Krankheiten. Über mehr als 100 Jahre starben die meisten betroffenen Babys schon nach wenigen Monaten. Schon deshalb war es Expert:innen der Kinderheilkunde schon immer ein besonderes Anliegen, diese tückische Erkrankung frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.
Am 1. Oktober ist dieser Wunsch für das Universitätsklinikum Gießen und Marburg in Erfüllung gegangen: Am dort ansässigen Zentrum für Seltene Erkrankungen können solche Kinder nun frühzeitig behandelt werden, da die Spinale Muskelatrophie deutschlandweit in das sogenannte Neugeborenen-Screening aufgenommen worden ist und nach Jahren der intensiven Forschung behandelbar ist.
Für Professor Dr. Andreas Hahn und seine Kolleg:innen ist das ein besonderer Tag, wie er im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog erzählt. Er ist Oberarzt der Abteilung Kinderneurologie, Sozialpädiatrie und Epileptologie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Gießen und eingebunden in das dort ansässige Zentrum für Seltene Erkrankungen.
Hier und in ähnlichen hochspezialisierten Zentren geht es mittlerweile allerdings um mehr als die reine Diagnose. Denn bedeutende Fortschritte in der Forschung haben dafür gesorgt, dass viele selten vorkommende Krankheiten, wie eben auch die Spinale Muskelatrophie, mittlerweile behandelt werden können.
Im Gespräch erklärt Professor Hahn, was das erweiterte Neugeborenen-Screening für Eltern bedeutet, deren Babys an Spinaler Muskelatrophie erkrankt sind. Zudem nennt er die derzeit bekannten Behandlungsmöglichkeiten und beschreibt, welche Auswirkungen der medizinische Fortschritt auf seine Disziplin hat.
Herr Professor Hahn, welche Konsequenz hatte die Diagnose „Spinale Muskelatrophie“ bisher?
Bei der schwersten Form der Spinalen Muskelatrophie, bei der Nervenzellen schon innerhalb der ersten Lebenswochen irreversibel geschädigt werden, sind die meisten Kinder bis zum Alter von anderthalb Jahren gestorben. Oder aber sie mussten künstlich beatmet werden und waren vollkommen bewegungsunfähig.
Was hat sich hinsichtlich dieser Situation geändert?
Vor vier Jahren gab es einen Wendepunkt. Damals haben wir das erste Medikament zur Behandlung der Spinalen Muskelatrophie bekommen. Es muss allerdings bis heute alle vier Monate verabreicht und direkt in das Nervenwasser gespritzt werden – was natürlich aufwändig ist. Trotzdem war das ein Meilenstein für uns alle. Vor zirka anderthalb Jahren wurde dann eine sogenannte Gen-Ersatz-Therapie vorgestellt. Dahinter steckt die durch die mediale Berichterstattung bekannte sogenannte „Zwei-Millionen-Euro-Spritze“ Zolgensma. Die zugehörige Therapie kann Stand heute nur an wenigen Zentren in Deutschland durchgeführt werden, unter anderem hier bei uns in Gießen.
Was kann man sich unter Gen-Ersatz genau vorstellen?
Bei dieser Therapie wird das kranke Gen durch ein gesundes ersetzt. Diese künstlich hergestellte Erbanlage wird in ein nicht krank machendes Virus hineingepackt, das der Patientin oder dem Patienten gespritzt wird. Durch die Blutbahn gelangt das Virus dann ins Gehirn und in die nicht funktionierenden Zellen im Rückenmark. Dort gibt es dann das eingeschleuste, gesunde Gen frei. Diese Therapieform war ein Riesenfortschritt. Und zwar auch deswegen, weil wir hier von einer Behandlungsmöglichkeit sprechen, die man nach dem jetzigen Stand der Forschung nur einmal anwenden muss. Und eben nicht mehrere Male pro Jahr, wie das bei den anderen beiden derzeit verfügbaren Therapien der Fall ist.
Warum ist es sinnvoll, eine derartige Therapie bei Kindern möglichst frühzeitig zu starten?
Zunächst sollten wir festhalten: Auch bei Kindern, bei denen die Spinale Muskelatrophie schon weit fortgeschritten ist, lassen sich mit dieser Gen-Ersatz-Therapie eindeutige Therapieerfolge erzielen. Aber besser ist es natürlich, frühzeitig mit dem Verabreichen zu starten, in einem Stadium also, zu dem die Krankheit noch gar nicht oder kaum ausgeprägt ist. Also zum Beispiel schon in der ersten Lebenswoche. Dadurch lässt sich die Wirksamkeit dieser Behandlung dramatisch verbessern.
Aus diesem Grund ist es sehr sinnvoll, dass wir unser Neugeborenen-Screening zum 1. Oktober um die Thematik Spinale Muskelatrophie erweitert haben.
Früherkennung also im besten Wortsinn…
Unser Ziel ist es, die Krankheit zu einem Zeitpunkt zu diagnostizieren, zu dem die jungen Menschen noch überhaupt keine Symptome erkennen lassen. Studiendaten lassen jetzt schon darauf schließen, dass Kinder, die ansonsten mit anderthalb Jahren gestorben wären, mittlerweile das Laufen lernen können – nur aufgrund dieser neuen sehr frühen Diagnose. Zudem hat man feststellen können, dass betroffene Kinder hierdurch in ihren ersten Lebensjahren eine weitgehend normale motorische Entwicklung erfahren haben. Das ist eine wirklich tolle Nachricht für uns alle, die wir uns seit vielen Jahren mit der Thematik beschäftigen.
Überhaupt sollte man bedenken, dass es sich bei der Spinalen Muskelatrophie um eine Krankheit handelt, die seit über 100 Jahren bekannt und lange Zeit absolut tödlich war. Über viele Jahrzehnte hinweg konnte sie schlicht und einfach nicht behandelt werden. Damit ist jetzt Schluss!
Im Moment gibt es zur Behandlung der Spinalen Muskelatrophie neben der Gen-Ersatz-Therapie auch die erwähnten zwei weiteren Präparate. Welches können Sie und Ihre Disziplin besonders empfehlen?
Wir klären die Patient:innen über eine bei ihrem Kind mögliche Behandlung natürlich detailliert auf. Fakt ist: Es gibt derzeit keine Hinweise darauf, dass eines wirksamer ist als das andere. Die Therapieentscheidung treffen wir gemeinsam mit den Eltern. Und die meisten unter ihnen entscheiden sich im Moment für die Gen-Ersatz-Therapie. Wohl einfach deshalb, weil sie Stand heute nur einmal angewendet werden muss.
Welche Bedeutung hat für Sie persönlich die jetzt erfolgte Erweiterung des Neugeborenen-Screenings?
Es ist schon mehrere Jahre her, dass eine selten vorkommende Erkrankung wie die Spinale Muskelatrophie neu in das Neugeborenen-Screening aufgenommen worden ist. Das liegt unter anderem daran, dass für einen derartigen Schritt bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen.
Welche sind das?
Unter anderem muss nachgewiesen werden, dass ein sehr frühzeitiger Untersuchungs- und Behandlungszeitpunkt auch wirklich dazu führt, dass die Patient:innen davon profitieren. Relevant für derzeitige Frühuntersuchungen sind also Krankheiten, die Kinder unmittelbar nach der Geburt betreffen. Um das herauszufinden, braucht es aufwändige Studien, die zeigen, dass ein solches erweitertes Neugeborenen-Screening wirklich effektiv und nützlich ist. Eine solche Studie ist hier in Deutschland durchgeführt worden.
Mit welchem Ergebnis?
Sie konnte zeigen, dass betroffene Patient:innen signifikant von einem derartigen erweiterten Screening und einer anschließenden Therapie profitieren – was ihre weitere Entwicklung nach der Geburt angeht. Und natürlich haben die Genetik-Labore und die Screening-Zentren ein bisschen Zeit gebraucht, um sich auf die neuen Rahmenbedingungen einzustellen. Aber das Ergebnis kann sich sehen lassen.
Wie wird sich Ihr Fachbereich in Zukunft weiterentwickeln?
Die neuen Möglichkeiten, die der Fortschritt in der Biotechnologie uns allen eröffnet, wird die Kinderheilkunde allgemein revolutionieren. Wir sprechen hier von einem echten Paradigmenwechsel. Wir werden viele der seltenen Erkrankungen, mit denen wir uns hier an der Klinik beschäftigen und die für betroffene Menschen bisher oftmals einem Todesurteil gleichkamen, nicht mehr nur diagnostizieren, sondern zunehmend auch effektiv behandeln können. Das ist ein unglaublicher Fortschritt, und für einen Arzt natürlich Grund zum Feiern.
Ihr Experte für Spinale Muskelatrophie:
Professor Dr. Andreas Hahn
Oberarzt der Abteilung Kinderneurologie, Sozialpädiatrie und Epileptologie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Gießen