Ermittler im weißen Kittel

Ermittler im weißen Kittel

Um Verbrechen aufzudecken, braucht es häufig medizinischen Rat. Den holen sich Polizei und Justiz auch bei Mitarbeitern der RHÖN-KLINIKUM AG, unter anderem in Gießen und Frankfurt (Oder).

An einem Sonntagmorgen vor 14 Jahren klingelt Prof. Dr. Reinhard Dettmeyers Telefon. Als der damalige Oberarzt der Rechtsmedizin in Bonn abhebt, meldet sich eine junge Kollegin: Ein Todesfall in der Justizvollzugsanstalt – ob sie hinfahren solle? Tod in der JVA – das bedeutet in der Regel: Suizid durch Erhängen. Reine Routine, denkt Dettmeyer und schickt die Kollegin los. Die Obduktion setzt er für Montagmorgen an, ein Suizid erfordert keine Wochenendarbeit. Knapp 24 Stunden später liegt die Leiche des Häftlings vor Dettmeyer auf dem metallenen Obduktionstisch. Das Seil zum Strangulieren ist noch ordentlich um seinen Hals geknotet. Da wird der Rechtsmediziner stutzig: Im Knoten sind Haare eingeklemmt. Der Fall ist klar: Es handelt sich um Mord.

Dettmeyer ist heute Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am UKGM in Gießen. Immer wieder treten er und sein Team als Sachverständige in bekannten Kriminalfällen auf, zuletzt im Fall des Mords am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Der hier geschilderte Fall ging als „Foltermord von Siegburg“ durch die Medien. Er ist Dettmeyer aus seiner 35-jährigen Obduktionstätigkeit besonders in Erinnerung geblieben. Weil er besonders grausam war. Aber auch weil er besonders gut zeigt, worauf es in der Rechtsmedizin ankommt: genau hinsehen. Und was sie im besten Fall leisten kann: die Wahrheit ans Licht bringen. Dettmeyer drückt es nüchterner aus: „Die Aufgabe unseres Fachs besteht darin, medizinisch-naturwissenschaftliche Fragen der Justiz zu beantworten.“ Und meist gelinge ihm das auch.

Spurensuche

Die brisantesten Fragen sind dabei ohne Zweifel die, bei denen es um unnatürliche Todesfälle geht: Woran ist ein Mensch gestorben? War es ein Unfall oder ein Gewaltverbrechen? Wenn es Fremdverschulden war, gibt es Hinweise auf den Täter?

Um darauf Antworten zu finden, schaltet die Staatsanwaltschaft die Rechtsmedizin ein. Die schaut sich zwei Dinge ganz genau an: den Leichenfundort und die Leiche. „Wir gehen immer erst mal mit der Spurensicherung die Umgebung der Leiche ab“, erläutert Institutsleiter Dettmeyer. Sie könne schon viele Rückschlüsse auf Todeszeitpunkt und -ursache geben: ein Schlafanzug als Kleidung, herumliegende Medikamente als Hinweis auf Selbstmord oder ein Messer als mögliche Mordwaffe. Erst danach wird die Leiche begutachtet. Zunächst vor Ort, dann im sogenannten Sektionssaal.

Als schlichter schwarzer Schriftzug prangt das Wort über einer schmucklosen weißen Kunststofftür. Dettmeyer führt über eine kurze Treppe in den fensterlosen, gekachelten Raum. Auf dem Boden liegen ein paar tote Fliegen, es riecht süßlich-streng. „Wir hatten heute Morgen eine Fäulnisleiche“, erklärt er entschuldigend. Ob er sich an solche Gerüche gewöhnt habe? Abends bekäme er von den Fäulnisgasen immer noch manchmal Kopfschmerzen, gibt er zu.

Rund 700 Obduktionen führen Dettmeyer und sein Team jedes Jahr durch.

Wie sie dabei vorzugehen haben, ist streng festgelegt. „Wir müssen immer alle drei Körperhöhlen öffnen, also Bauchraum, Brustraum und Kopf“, erläutert Dettmeyer, „selbst wenn die Todesursache offensichtlich ein Messerstich ins Herz zu sein scheint.“ Dazu wird eine Reihe von Proben genommen: Gewebeproben aller Organe, Urin, Galle, Glaskörperflüssigkeit vom Auge und natürlich Blut. Alles wird akribisch dokumentiert.

Starke Nerven und professionelle Distanz

„Viele Menschen haben bei Obduktionen negative Assoziationen“, sagt Dettmeyer. Dabei handele es sich, wie bei einer Operation, um gezieltes Präparieren. „Ich kann nicht einfach mit meinem Messer drauflosschnippeln“, macht der 62-Jährige deutlich.

Die Schuld für das schlechte Image der Rechtsmediziner sieht er auch bei den Medien: „Es ist ziemlich dreist, wie wir in den Krimis manchmal dargestellt werden. Am besten neben dem Obduktionstisch mit einem Butterbrot und einer Zigarette in der Hand.“

Pietätlos und abgebrüht wie zum Teil im „Tatort“, das seien Rechtsmediziner natürlich nicht, allerdings wohl „professionell distanziert“. „Ich muss rekonstruieren, wie einem Opfer auf meinem Obduktionstisch seine Verletzungen zugefügt wurden. Die Schmerzen, die es dabei hatte, darf ich mir aber nicht vorstellen, das würde mich belasten“, so Dettmeyer.

Man müsse für den Beruf schon psychisch stabil sein. Geträumt habe er von seiner Arbeit noch nie, sagt er.  Doch im Alltag eines Rechtsmediziners geht es nicht immer nur um Leichen, Mord und Totschlag. War der Verursacher eines Unfalls am Steuer betrunken? Ist Herr Müller wirklich der Vater vom kleinen Lukas? Welche Spuren weisen auf den Täter eines Kiosküberfalls hin? Auch solche Fragen beschäftigen Dettmeyer und sein Team: „Wir analysieren jährlich allein etwa 4.000 Blutproben von Menschen, die im Straßenverkehr auffällig geworden sind.“ Einen weiteren großen – und immer größer werdenden – Teil der Arbeit mache zudem die Gewaltopferuntersuchung aus. Diese wird jedoch nicht allein von rechtsmedizinischen Instituten durchgeführt.

Wirklich ein Sturz vom Wickeltisch?

Wenn bei einem Kind im Raum Frankfurt (Oder) der Verdacht auf eine Gewaltanwendung besteht, landet es meist im Kinderzentrum des Klinikums Frankfurt (Oder). In einer sogenannten Gewaltopferuntersuchung gehen die Ärzte hier folgenden Fragen nach: Handelt es sich um einen Fall von Kindeswohlgefährdung? Entstanden bestimmte Verletzungen durch einen Unfall oder war Gewalt im Spiel?

„Es gibt relativ viele Verletzungen, die uns direkt hellhörig machen“, erklärt Dr. Kerstin Lohse, Chefärztin der Klinik für Kinderchirurgie.

Eine Oberschenkelfraktur bei einem Kind, das nicht einmal laufen kann, oder blaue Flecken, die sich nicht am Schienbein, sondern an der Beinrückseite befinden – da sei schnell klar: Das war kein Sturz.

Ob es sich aber um Kindeswohlgefährdung handelt, bei der das Jugendamt eingreifen sollte, oder nur um einen Einzelfall, darüber muss meist intensiver diskutiert werden. „Solange das nicht sicher geklärt ist, nehmen wir aber das Kind erst mal stationär auf, um es aus der akuten Gefahrensituation zu holen“, so Lohse. Dann werden diese Fälle in einem interdisziplinären Team besprochen.

Bei diesen sogenannten Kinderschutzkonferenzen sind jeweils ein Kinderarzt, -chirurg und -psychiater, ein Gynäkologe, eine Kinderkrankenschwester und zum Teil bereits ein Mitarbeiter des Jugendamts anwesend. Gemeinsam wird abgewogen, was für das Kind am besten ist. Um sich bei der Entscheidung darüber besonders sicher zu sein, werden meist noch weitere Untersuchungen gemacht und Gespräche geführt: mit den Eltern, der Rechtsmedizin, dem zuständigen Kinderarzt. Erst dann ergibt sich ein vollständiges Bild der Situation.

Das Kind aus der Familie zu nehmen, betont Dr. Stefan Schreier, Oberarzt der Kinderklinik, sei dabei immer die Ultima Ratio: „Im besten Fall kann das Kind zurück in die Familie – mit der Sicherheit, dass so ein gewaltsamer Vorfall nicht noch mal passiert.“ Die Ergebnisse der Kinderschutzkonferenzen sowie die Dokumentation der Gewaltopferuntersuchung – Fotos der Verletzungen, Protokolle und Proben – werden an das Jugendamt und von dort gegebenenfalls weiter an das Gericht gegeben. Ab da übernehmen Polizei und Justiz. Selbst vor Gericht aussagen? Das habe er nur einmal machen müssen, erzählt Schreier. Etwa fünf bis acht Kinderschutzkonferenzen hält das Team im Jahr ab. Mit Corona könnte sich das allerdings für eine Weile ändern, befürchtet der Kinderarzt. Die Isolation im Lockdown habe Kindesmisshandlung begünstigt und durch Schul- und Kindergartenschließungen seien wichtige Kontrollmechanismen weggefallen. Schreier: „Was da noch alles auf uns zukommt, müssen wir sehen.“

 

Ihre Experten

Professor Dr. Dr. Reinhard B. Dettmeyer, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universitätskliniken Gießen und Marburg, Gießen
Dr. med. Kerstin Lohse, Chefärztin Klinik für Kinderchirurgie
Dr. med. Kerstin Lohse, Chefärztin Klinik für Kinderchirurgie am Gesundheits-Campus Klinikum Frankfurt (Oder)